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Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Teil III/Vorlesung 77

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Der Tangentialraum einer differenzierbaren Mannigfaltigkeit

Für eine offene Menge und einen Punkt repräsentiert der umgebende reelle Vektorraum die Menge aller möglichen Richtungen in diesem Punkt. Man kann den Vektor mit dem Weg

identifizieren, wobei ein reelles Intervall derart ist, dass das Bild der Abbildung in liegt. Diesen Vektorraum nennt man den Tangentialraum im Punkt an .

Für die Faser einer differenzierbaren Abbildung , offen, in einem regulären Punkt haben wir den Tangentialraum an die Faser durch als Kern des totalen Differentials definiert. Dadurch war der Tangentialraum ein -dimensionaler Untervektorraum des umgebenden Vektorraums . Für unseren abstrakten Mannigfaltigkeitsbegriff gibt es einen solchen umgebenden Vektorraum nicht, in dem sich alles abspielt. Dennoch können wir auch für eine Mannigfaltigkeit in jedem Punkt einen Tangentialraum erklären. Dieser wird ein Vektorraum sein (dessen Dimension gleich der Dimension der Mannigfaltigkeit ist), und zu einer differenzierbaren Abbildung zwischen zwei Mannigfaltigkeiten wird das totale Differential in jedem Punkt eine lineare Abbildung zwischen den Tangentialräumen sein.

Wenn man für einen Punkt einer differenzierbaren Mannigfaltigkeit eine offene Umgebung und eine Karte

mit heranzieht, so liegt es nahe, diesen als Tangentialraum zu betrachten. In der Tat wird es eine solche Isomorphie geben, doch als Definition ist dieser Ansatz wegen der Abhängigkeit von der gewählten Karte unbrauchbar. Stattdessen arbeiten wir mit Äquivalenzklassen von differenzierbaren Kurven.


Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Es seien

und

zwei auf offenen Intervallen definierte differenzierbare Kurven mit . Dann heißen und tangential äquivalent in , wenn es eine offene Umgebung und eine Karte

mit derart gibt, dass

gilt.

Wir brauchen einige einfache Lemmata, um nachzuweisen, dass es sich hierbei um einen sinnvollen Begriff handelt.


Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Es seien

und

zwei auf offenen Intervallen definierte differenzierbare Kurven mit .

Dann sind und genau dann tangential äquivalent in , wenn für jede Karte

mit und die Gleichheit

gilt.

Für eine differenzierbare Kurve

mit und und eine Karte

(mit und ) ändert sich der Ausdruck

nicht, wenn man zu einem kleineren offenen Intervall und einer kleineren offenen Menge (mit der induzierten Karte) übergeht. Wir können also davon ausgehen, dass und auf dem gleichen Intervall definiert sind und ihre Bilder in liegen, und dass es für dieses zwei Karten

und

gibt. Dann folgt aus

nach der Kettenregel unter Verwendung der Differenzierbarkeit der Übergangsabbildung sofort



Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit und ein Punkt.

Dann ist die tangentiale Äquivalenz von differenzierbaren Kurven durch eine Äquivalenzrelation.

Die Reflexiviät und die Symmetrie der Relation sind unmittelbar klar. Zum Nachweis der Transitivität seien drei differenzierbare Kurven

gegeben, wobei wir sofort annehmen dürfen, dass sie auf dem gleichen offenen Intervall definiert sind. Es seien offene Mengen, mit denen man die tangentiale Gleichheit von und bzw. von und nachweisen kann. Dann kann man nach Lemma 77.2 mit die tangentiale Gleichheit von und nachweisen.


Aufgrund dieses Lemmas ist die folgende Definition sinnvoll.


Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Unter einem Tangentialvektor an versteht man eine Äquivalenzklasse von tangential äquivalenten differenzierbaren Kurven durch . Die Menge dieser Tangentialvektoren wird mit

bezeichnet.



Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit, ein Punkt, offen und

eine Karte. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Die Abbildung

    ist eine wohldefinierte Bijektion.

  2. Die durch diese Abbildung auf definierte Vektorraumstruktur ist unabhängig von der gewählten Karte.

(1). Die Wohldefiniertheit der Abbildung ist wegen Lemma 77.2 klar. Die Injektivität folgt unmittelbar aus der Definition 77.1. Zur Surjektivität sei . Wir betrachten die affin-lineare Kurve

dessen Ableitung in gerade ist. Wir schränken diese Kurve auf ein Intervall derart ein, dass ist und betrachten

Für diese Kurve gilt

und


(2). Durch Übergang zu kleineren offenen Mengen können wir annehmen, dass zwei Karten

und

vorliegen. Die Übergangsabbildung

ist ein - Diffeomorphismus und für ihr totales Differential in gilt nach der Kettenregel die Beziehung

Das bedeutet, dass das Diagramm

wobei vertikal das totale Differential zu steht, kommutiert. Da das totale Differential eine lineare Abbildung ist, die in der gegebenen Situation bijektiv ist, macht es keinen Unterschied, ob man die Addition und die Skalarmultiplikation auf unter Bezug auf die obere oder die untere horizontale Abbildung definiert.



Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Unter dem Tangentialraum an , geschrieben , versteht man die Menge der Tangentialvektoren an versehen mit der durch eine beliebige Karte gegebenen reellen Vektorraumstruktur.

Die Dimension des Tangentialraumes stimmt mit der Dimension der Mannigfaltigkeit überein. Jede Karte induziert einen Isomorphismus zwischen und dem , aber diese Isomorphismen hängen von der gewählten Karte ab. Insbesondere gibt es auf dem Tangentialraum keine Standardbasis.


Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Den Dualraum des Tangentialraumes

an nennt man den Kotangentialraum an . Er wird mit
bezeichnet.



Es seien und differenzierbare Mannigfaltigkeiten und es sei

eine differenzierbare Abbildung. Es sei und und es seien

zwei differenzierbare Kurven mit einem offenen Intervall und . Es seien und im Punkt tangential äquivalent.

Dann sind auch die Verknüpfungen und tangential äquivalent in .

Beweis

Siehe Aufgabe 77.3.


Aufgrund dieses Lemmas ist der folgende Begriff wohldefiniert.


Es seien und differenzierbare Mannigfaltigkeiten und es sei

eine differenzierbare Abbildung. Es sei und . Dann nennt man die Abbildung

die zugehörige Tangentialabbildung im Punkt . Sie wird mit bezeichnet.



Es seien und differenzierbare Mannigfaltigkeiten und es sei

eine differenzierbare Abbildung. Es sei , und es sei

die zugehörige Tangentialabbildung. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Wenn und offene Teilmengen sind und die Tangentialräume mit den umgebenden euklidischen Räumen identifiziert werden, so ist die Tangentialabbildung gleich dem totalen Differential .
  2. Wenn

    mit und und

    mit und Karten sind, so ist das Diagramm

    kommutativ, wobei die vertikalen Abbildungen durch die Isomorphismen bzw. gegeben sind.

  3. ist - linear.
  4. Wenn eine weitere Mannigfaltigkeit, und

    eine weitere differenzierbare Abbildung mit ist, so gilt

  5. Wenn ein Diffeomorphismus ist, dann ist ein Isomorphismus.
  6. Für eine differenzierbare Kurve

    mit einem offenen Intervall , und gilt im Tangentialraum die Gleichheit

(1). Jeder Tangentialvektor wird repräsentiert durch einen affin-linearen Weg mit einem Vektor , sodass wir zwischen diesen Vektoren und den durch sie definierten Tangentialvektoren hin- und herwechseln können. Für den zusammengesetzten Weg gilt nach der Kettenregel


(2). Die Kettenregel angewendet auf (wobei man und durch kleinere offene Mengen ersetzen muss)

liefert

was gerade die Kommutativität des Diagramms ist.
(3). Die Aussage folgt aus (2) und der Linearität des totalen Differentials.
(4). Durch Übergang zu Karten folgt dies aus (2) und der Kettenregel.
(5) folgt aus (4) angewendet auf die Umkehrabbildung .
(6). Das Element ist als Tangentenvektor an einem Punkt als der Weg zu interpretieren. Bei ist dies der identische Weg. Daher ist




Es seien und differenzierbare Mannigfaltigkeiten und

eine differenzierbare Abbildung. Es sei und . Dann nennt man die zur Tangentialabbildung

duale Abbildung

die Kotangentialabbildung im Punkt . Sie wird mit bezeichnet.

Ausgeschrieben handelt es sich dabei um die Abbildung


Es seien und differenzierbare Mannigfaltigkeiten und sei

eine differenzierbare Abbildung. Dann heißt im Punkt regulär (und ein regulärer Punkt für ), wenn die Tangentialabbildung

im Punkt maximalen Rang besitzt.

Diese Definition verallgemeinert die entsprechende Definition 52.2 von euklidischen Teilmengen auf Mannigfaltigkeiten. Sie bedeutet einfach, dass bei die Tangentialabbildung in surjektiv sein muss und bei injektiv sein muss.


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