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Kurs:Maß- und Integrationstheorie (Osnabrück 2022-2023)/Vorlesung 9

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Integrierbare Funktionen

Wir führen nun das Lebesgue-Integral für messbare Funktionen auf einem Maßraum ein. Dieser Integralbegriff hat gegenüber dem Riemann-Integral folgende Vorteile.

  1. Der Integralbegriff bekommt ein maßtheoretisches Fundament.
  2. Es kann über einer (fast) beliebigen Menge integriert werden.
  3. Es kann eine weit größere Funktionenklasse integriert werden.
  4. Das Grenzwertverhalten von Funktionenfolgen ist einfacher.
  5. Man kann Funktionen auf Nullmengen abändern, ohne das Integral zu verändern.
  6. Uneigentliche Integrale werden direkt mitbehandelt.
  7. Die Summe einer abzählbaren Familie reeller Zahlen ist ein Spezialfall.

Es sei eine Menge und

eine nichtnegative Funktion. Dann nennt man die Menge

den Subgraphen der Funktion.



Es sei ein Messraum und

eine messbare Funktion.

Dann sind der Graph und der Subgraph messbare Teilmengen in .

Die Projektion

ist nach Lemma 4.9 messbar, und ebenso ist

messbar. Nach Lemma 4.11 und Lemma 8.3 ist dann auch die Abbildung[1]

messbar. Es ist

und

sodass diese beiden Mengen messbar sind.



Es sei ein - endlicher Maßraum und

eine messbare numerische nichtnegative Funktion. Dann heißt

das Integral von über (zum Maß ).

Diese Definition ist sowohl unmittelbar anschaulich als auch vom theoretischen Standpunkt her sehr schlagkräftig, da sie auf dem Maßbegriff beruht. Dagegen ist sie für Berechnungen direkt nicht geeignet, weshalb wir im Folgenden entsprechende Rechentechniken entwickeln werden. Diese Definition lässt die Möglichkeit zu, dass die Funktion den Wert annimmt, und dass das Integral diesen Wert annimmt. Im Fall von numerischen Funktion, die auch negative Werte annehmen können, führt man den Integralbegriff auf die Integrale der positiven und negativen Teilfunktion zurück. Dies ergibt aber nur dann Sinn, wenn beide Teilintegrale endlich sind.


Es sei ein - endlicher Maßraum und

eine messbare numerische Funktion. Dann heißt integrierbar, wenn die beiden Integrale und endlich sind. In diesem Fall nennt man

das Integral von .

Mit dieser Situation ergibt sich der leicht paradoxe Sprachgebrauch, dass eine nichtnegative Funktion stets ein Integral besitzt, dass aber, wenn dieses Integral unendlich ist, die Funktion nicht integrierbar ist. Die Integrierbarkeit ist, abgesehen von der vorausgesetzten Messbarkeit, die aber nahezu immer erfüllt ist, in erster Linie ein Endlichkeitsbegriff. In diese Richtung weist auch das folgende Lemma.



Es sei ein - endlicher Maßraum und

eine messbare numerische Funktion. Dann sind folgende Eigenschaften äquivalent.

  1. ist integrierbar.
  2. Der positive und der negative Teil von sind integrierbar.
  3. Die Betragsfunktion ist integrierbar.
  4. Es gibt eine integrierbare messbare Funktion

    mit für alle .

Die Äquivalenz von (1) und (2) ist die Definition von integrierbar.
Für die Äquivalenz von (2) und (3) verwendet man die Beziehung . Dabei ist der Subgraph von die Vereinigung der beiden Subgraphen zu bzw. , wobei der Durchschnitt dieser Subgraphen aus der Menge besteht und somit nach Aufgabe 9.4 das Maß besitzt. Also ist[2]

und die beiden Summanden sind genau dann endlich, wenn die Summe endlich ist.
Aus (3) folgt (4), indem man nimmt.
Wenn (4) erfüllt ist, so ist der Subgraph von im Subgraphen von enthalten, und die Monotonie des Maßes ergibt die Endlichkeit von , also (3). Aus (3) folgt entsprechend (2), da der Subgraph von bzw. von eine Teilmenge des Subgraphen zu ist.


Für eine messbare Teilmenge setzt man

d.h. man schaut sich die auf den Teilmaßraum eingeschränkte Funktion an. Man könnte genauso gut die Funktion durch diejenige Funktion ersetzen, die auf mit übereinstimmt und die außerhalb davon gleich ist. Wenn man die Indikatorfunktion zu einer messbaren Teilmenge heranzieht, so ergibt sich

Diese Beschreibung des Maßes als ein Integral kann durchaus nützlich sein.

Man kann den Subgraphen als

schreiben, wobei der Graph ist und

gesetzt wird. Das folgende Lemma zeigt, dass der Graph eine Nullmenge ist und dass man somit den Subgraphen durch dieses ersetzen kann. Dies ist für einige Ausschöpfungseigenschaften von Vorteil.



Es sei ein - endlicher Maßraum und

eine messbare numerische Funktion.

Dann ist der Graph eine Nullmenge in .

Die Mengen und , die beide Teilmengen des Graphen sind, sind Nullmengen in . Man kann also annehmen, dass von vornherein eine messbare Funktion

vorliegt. Ferner können wir annehmen, dass ein endliches Maß ist, da zu einer Ausschöpfung mit auch eine Ausschöpfung von ist. Wenn der Durchschnitt des Graphen mit allen das Maß hat, so auch der Gesamtgraph.  Nehmen wir nun an, dass ist. Es ist

eine disjunkte abzählbare Vereinigung, sodass mindestens einer dieser „Streifen“ ein positives Maß haben muss. Wir können durch ersetzen und daher annehmen, dass das Bild von in liegt. Wir betrachten die abzählbar unendlich vielen Verschiebungen

Diese sind paarweise disjunkt und sie liegen alle in . Wegen der Translationsinvarianz von ist auch für jedes die Abbildung

maßtreu (man betrachte die Quader, die das Produktmaß festlegen, siehe Aufgabe 9.15), und daher besitzt jede Verschiebung des Graphen das gleiche Maß wie der Graph selbst. Aus

ergibt sich ein Widerspruch.




Die Tschebyschow-Abschätzung

Für einen endlichen Maßraum und eine integrierbare Funktion

ist eine reelle Zahl. Bei nennt man den Quotienten den Durchschnittswert oder Mittelwert der Funktion , da ja den gleichen Wert hat wie das Integral

zur konstanten Funktion .


Die folgende Aussage nennt man Tschebyschow-Abschätzung oder Tschebyschow-Ungleichung.


Es sei ein - endlicher Maßraum und

eine messbare numerische nichtnegative Funktion.

Dann gilt für jedes die Abschätzung

Es sei . Dann ist

also



Bildmaße und allgemeine Transformationsformel



Es sei ein - endlicher Maßraum, ein Messraum und

eine messbare Abbildung. Es sei das Bildmaß von unter , das ebenfalls als - endlich vorausgesetzt sei, und es sei

eine - integrierbare Funktion.

Dann ist auch - integrierbar, und es gilt

Für nichtnegatives ergibt sich dies unter Verwendung von Aufgabe 5.6 und Aufgabe 9.1 aus

Daraus ergibt sich auch der allgemeine Fall.


Wenn und und

eine differenzierbare bijektive streng wachsende Funktion ist, so gilt für eine stetige Funktion

die Substitutionsregel

Um eine mit der allgemeinen Transformationsformel vergleichbare Substitutionsformel zu haben, muss man auf die Funktion mit dem Maß und auf die Funktion betrachten. Die Substitutionsregel liefert dann

Links steht das Integral , also muss rechts das Integral stehen. Somit wird das Bildmaß durch die[3] Dichte bezüglich gegeben. Das Bildmaß ist auch durch

bestimmt.




Fußnoten
  1. Für diese Argumentation setzt man und ansonsten u.s.w. Man kann auch die messbaren Mengen und aus dem Graphen bzw. Subgraphen herausnehmen und nur -wertige Funktionen betrachten.
  2. Wir werden später sehen, dass generell das Integral mit der Addition von Funktionen verträglich ist, das haben wir hier aber noch nicht zur Verfügung.
  3. Dichten werden wir in Vorlesung 13 einführen.


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