- Integrierbare Funktionen
Wir führen nun das Lebesgue-Integral für messbare Funktionen auf einem Maßraum ein. Dieser Integralbegriff hat gegenüber dem Riemann-Integral folgende Vorteile.
- Der Integralbegriff bekommt ein maßtheoretisches Fundament.
- Es kann über einer
(fast) beliebigen Menge integriert werden.
- Es kann eine weit größere Funktionenklasse integriert werden.
- Das Grenzwertverhalten von Funktionenfolgen ist einfacher.
- Man kann Funktionen auf Nullmengen abändern, ohne das Integral zu verändern.
- Die Summe einer abzählbaren Familie reeller Zahlen ist ein Spezialfall.
Es sei eine Menge und
-
eine
nichtnegative Funktion.
Dann nennt man die Menge
-
den Subgraphen der Funktion.
Die
Projektion
-
ist nach
Lemma 65.9
messbar, und ebenso ist
-
messbar. Nach
Lemma 65.11
und
Lemma 69.3
ist dann auch die Abbildung[1]
-
messbar. Es ist
-
und
-
sodass diese beiden Mengen messbar sind.
Diese Definition ist sowohl unmittelbar anschaulich als auch vom theoretischen Standpunkt her sehr schlagkräftig, da sie auf dem Maßbegriff beruht. Dagegen ist sie für Berechnungen direkt nicht geeignet, weshalb wir im Folgenden entsprechende Rechentechniken entwickeln werden. Diese Definition lässt die Möglichkeit zu, dass die Funktion den Wert annimmt, und dass das Integral diesen Wert annimmt. Im Fall von numerischen Funktion, die auch negative Werte annehmen können, führt man den Integralbegriff auf die Integrale der positiven und negativen Teilfunktion zurück. Dies ergibt aber nur dann Sinn, wenn beide Teilintegrale endlich sind.
Es sei ein
-
endlicher
Maßraum
und
-
eine
messbare
numerische Funktion. Dann heißt integrierbar, wenn die beiden
Integrale
und
endlich sind. In diesem Fall nennt man
-
das Integral von .
Mit dieser Situation ergibt sich der leicht paradoxe Sprachgebrauch, dass eine nichtnegative Funktion stets ein Integral besitzt, dass aber, wenn dieses Integral unendlich ist, die Funktion nicht integrierbar ist. Die Integrierbarkeit ist, abgesehen von der vorausgesetzten Messbarkeit, die aber nahezu immer erfüllt ist, in erster Linie ein Endlichkeitsbegriff. In diese Richtung weist auch das folgende Lemma.
Die Äquivalenz von (1) und (2) ist die Definition von integrierbar.
Für die Äquivalenz von (2) und (3) verwendet man die Beziehung
.
Dabei ist der
Subgraph
von die Vereinigung der beiden Subgraphen zu
bzw. ,
wobei der Durchschnitt dieser Subgraphen aus der Menge besteht und somit nach
Aufgabe *****
das Maß besitzt. Also ist[2]
und die beiden Summanden sind genau dann endlich, wenn die Summe endlich ist.
Aus (3) folgt (4), indem man
nimmt.
Wenn (4) erfüllt ist, so ist der Subgraph von im Subgraphen von enthalten, und die Monotonie des Maßes ergibt die Endlichkeit von , also (3). Aus (3) folgt entsprechend (2), da der Subgraph von bzw. von eine Teilmenge des Subgraphen zu ist.
Für eine messbare Teilmenge
setzt man
-
d.h. man schaut sich die auf den Teilmaßraum eingeschränkte Funktion an. Man könnte genauso gut die Funktion durch diejenige Funktion ersetzen, die auf mit übereinstimmt und die außerhalb davon gleich ist. Wenn man die
Indikatorfunktion
zu einer messbaren Teilmenge
heranzieht, so ergibt sich
-
Diese Beschreibung des Maßes als ein Integral kann durchaus nützlich sein.
Man kann den Subgraphen schreiben als
-
wobei der Graph ist und
-
gesetzt wird. Das folgende Lemma zeigt, dass der Graph eine Nullmenge ist und dass man somit den Subgraphen durch dieses ersetzen kann. Dies ist für einige Ausschöpfungseigenschaften von Vorteil.
Die Mengen und , die beide Teilmengen des Graphen sind, sind Nullmengen in . Man kann also annehmen, dass von vornherein eine messbare Funktion
-
vorliegt. Ferner können wir annehmen, dass ein endliches Maß ist, da zu einer
Ausschöpfung
mit
auch eine Ausschöpfung von ist. Wenn der Durchschnitt des Graphen mit allen das Maß hat, so auch der Gesamtgraph.
Nehmen wir nun an, dass
ist. Es ist
-
eine
disjunkte
abzählbare Vereinigung,
sodass mindestens einer dieser „Streifen“ ein positives Maß haben muss. Wir können durch ersetzen und daher annehmen, dass das Bild von in liegt. Wir betrachten die abzählbar unendlich vielen
Verschiebungen
-
Diese sind
paarweise disjunkt
und sie liegen alle in . Wegen der
Translationsinvarianz
von ist auch für jedes die Abbildung
-
maßtreu
(man betrachte die Quader, die das Produktmaß festlegen, siehe
Aufgabe 70.8),
und daher besitzt jede Verschiebung des Graphen das gleiche Maß wie der Graph selbst. Aus
ergibt sich ein Widerspruch.
- Die Tschebyschow-Abschätzung
Die folgende Aussage nennt man Tschebyschow-Abschätzung oder Tschebyschow-Ungleichung.
- Bildmaße und allgemeine Transformationsformel
Es sei ein
-
endlicher
Maßraum, ein
Messraum
und
-
eine
messbare Abbildung.
Es sei das
Bildmaß
von unter , das ebenfalls als
-
endlich
vorausgesetzt sei, und es sei
-
eine
-
integrierbare Funktion.
Dann ist auch
-
integrierbar,
und es gilt
-
Für nichtnegatives ergibt sich dies unter Verwendung von
Aufgabe 66.1
und
Aufgabe 70.1
aus
Daraus ergibt sich auch der allgemeine Fall.
- Fußnoten
- ↑ Für diese Argumentation setzt man und ansonsten u.s.w. Man kann auch die messbaren Mengen und aus dem Graphen bzw. Subgraphen herausnehmen und nur -wertige Funktionen betrachten.
- ↑ Wir werden später sehen, dass generell das Integral mit der Addition von Funktionen verträglich ist, das haben wir hier aber noch nicht zur Verfügung.