- Die äußere Ableitung
In dieser Vorlesung werden wir ein neuartiges mathematisches Objekt kennenlernen, die sogenannte äußere Ableitung. Es handelt sich dabei um einen Ableitungsbegriff, der aus Differentialformen vom Grad Differentialformen von Grad macht. Für eine Differentialform vom Grad , also eine Funktion , ist die zugehörige äußere Ableitung einfach die -Form , also die Differentialform, die jedem Punkt
(bei einem euklidischen Raum) das totale Differential
-
bzw.
(bei einer Mannigfaltigkeit ) die Tangentialabbildung
-
zuordnet.
In der eindimensionalen Differentialrechnung sind Funktionen und ihre Ableitungen bzw. Stammfunktionen gleichartige Objekte
(dies gilt auch noch für differenzierbare Kurven), aber schon bei der Einführung des totalen Differentials zu einer Funktion in mehreren Variablen war die Ableitung ein fundamental anderes Objekt als die Funktion. Zwar können entlang vorgegebener Richtungen höhere Richtungsableitungen definiert werden, die selbst wieder Funktionen sind, doch erfassen diese jeweils nur einen Teilaspekt der Ableitung der Funktion, während das totale Differential die volle Information enthält.
Mit diesem wesentlichen Unterschied von Funktion und Ableitung hängt auch zusammen, dass wir uns im Höherdimensionalen noch nicht mit der umgekehrten Frage beschäftigt haben, welche Ableitungen eine Stammfunktion besitzen. Eine Funktion in mehreren Variabeln kann keine Stammfunktion besitzen, nur für eine -Differentialform ist dies eine sinnvolle Fragestellung. Der Satz von Schwarz über die Vertauschbarkeit der Richtungsableitungen stellt dabei schon ein wichtiges notwendiges Kriterium für die Existenz einer Stammfunktion zu einer -Differentialform dar.
Mit der Theorie der äußeren Ableitungen findet die Frage nach Stammfunktionen bzw. Stammformen ihren natürlichen Rahmen. Darüber hinaus erlaubt sie, den Satz von Stokes prägnant zu formulieren. Ferner können mit der äußeren Ableitung wesentliche topologische Eigenschaften einer Mannigfaltigkeit charakterisiert werden, was allerdings weit über diese Vorlesung hinausgeht.
Es sei
offen
und es sei
eine
stetig differenzierbare
-
Differentialform
mit der Darstellung
-
mit
stetig differenzierbaren Funktionen
-
Dann nennt man die -Form
-
die äußere Ableitung von .
Manchmal spricht man genauer von der -ten äußeren Ableitung. Der Differenzierbarkeitsgrad der Differentialform senkt sich dabei um , wie man an den Koeffizientenfunktionen direkt ablesen kann.
Die äußere Ableitung ist für
interessant, ab
handelt es sich um die Nullabbildung. Wenn man sich auf glatte Differentialformen beschränkt, so ergibt sich insgesamt eine Folge von äußeren Ableitungen, nämlich
-
An der ersten Stelle steht hier einfach die Ableitung einer Funktion
(die einzige Indexmenge mit Elementen ist die leere Menge),
also die Zuordnung .
Die wichtigsten Eigenschaften der äußeren Ableitung fassen wir wie folgt zusammen.
Es sei
offen,
und es sei
-
die
äußere Ableitung. Dann gelten folgende Eigenschaften.
- Die äußere Ableitung
-
ist das
totale Differential.
- Die äußere Ableitung ist
-
linear.
- Für
und
gilt die Produktregel
-
Für
ist dies als
-
zu lesen.
- Für jede zweimal stetig differenzierbare Differentialform ist
.
- Für eine
stetig differenzierbare Abbildung
(mit
offen)
-
und jedes
gilt für die
zurückgezogenen Differentialformen
-
(1) folgt unmittelbar aus der Definition
(die leere Menge ist die einzige relevante Indexmenge).
(2). Die Linearität folgt direkt aus der Definition, der
Linearität
des
totalen Differentials
und der
Multilinearität
des
äußeren Produktes.
(3). Es seien die Koordinaten auf . Wegen der Linearität von und der
Multilinearität des Dachprodukts
können wir die beiden Differentialformen als
und
mit Indexmengen
und
schreiben. Es gilt dann
(4). Für eine -Form
ist unter Verwendung von
Für eine zweimal stetig differenzierbare Funktion ist
mit den
partiellen Ableitungen
,
und daher ist
nach
dem Satz von Schwarz.
Für eine Differentialform vom Grad setzen wir
an und erhalten
-
Nach der Produktregel (3) ist dieser Ausdruck eine Summe von Dachprodukten, bei denen jeweils ein „Dachfaktor“ die Form
besitzt.
(5). Wir schreiben
-
Wegen der Linearität der äußeren Ableitung (2) und
der Linearität des Zurückziehens von Differentialformen
kann man
mit
ansetzen. Da das Zurückziehen nach
Aufgabe *****
{{:Kurs:Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Zurückziehen von Differentialformen/Verträglichkeit mit skalarer Funktion/Aufgabe/Aufgabereferenznummer/Zurückziehen von Differentialformen/Verträglichkeit mit skalarer Funktion/Aufgabe/Aufgabereferenznummer}}
und
Aufgabe 83.13
mit der Multiplikation mit skalaren Funktionen und mit dem Dachprodukt verträglich ist, gilt unter Verwendung der Produktregel (3), der Regel (4) und
der Kettenregel
(im Sinne von
Aufgabe 87.4)
Man zieht also die auf eingeschränkte Differentialform nach zurück, nimmt dort die äußere Ableitung gemäß den lokalen Vorschriften und zieht das Ergebnis nach zurück. Man muss sich klar machen, dass dies eine wohldefinierte Differentialform auf ergibt, dass es also zu einem Punkt
egal ist, unter Bezug auf welche Kartenumgebung die äußere Ableitung gebildet wird. Seien also zwei Karten für gegeben, wobei wir gleich annehmen dürfen, dass ihr Definitionsbereich gleich ist. Die Karten seien
-
und
-
und wir setzen
.
Dann ergibt sich, wobei wir
Lemma 87.2 (5)
auf und anwenden,
Auch die grundlegenden Eigenschaften von oben übertragen sich auf Mannigfaltigkeiten.
Es sei eine
differenzierbare Mannigfaltigkeit,
und es sei
-
die
äußere Ableitung. Dann gelten folgende Eigenschaften.
- Die äußere Ableitung
-
ist die
Tangentialabbildung.
- Die äußere Ableitung ist
-
linear.
- Für
und
gilt die Produktregel
-
- Für jede zweimal stetig differenzierbare Differentialform ist
.
- Es sei eine weitere differenzierbare Mannigfaltigkeit. Für eine
stetig differenzierbare Abbildung
-
und jedes
gilt für die
zurückgezogenen Differentialformen
-
Dies sind alles lokale Aussagen, sodass sie sich aus
Lemma 87.2
ergeben.
Eine exakte Differentialform ist also eine Differentialform, für die es eine Stammform gibt. Mit diesen Begriffen kann man die obige Aussage so formulieren, dass jede exakte Form geschlossen ist. Die Geschlossenheit ist also eine notwendige Bedingung dafür, das es eine Stammform geben kann. Es sei hier ohne Beweis bemerkt, dass dieses notwendige Kriterium für den auch hinreichend ist. Diese Äquivalenz gilt aber keineswegs auf jeder Mannigfaltigkeit.
- Euklidische Halbräume
Unter dem euklidischen Halbraum der Dimension versteht man die Menge
-
mit der
induzierten Topologie.
Bei ist dies ein Punkt, bei ist dies das Intervall , bei handelt es sich um eine Halbebene, und bei um einen Halbraum. Wenn man statt einen anderen Koordinatenindex oder „“ statt „ “ nimmt, so nennt man auch diese Objekte Halbräume. Da ein Halbraum abgeschlossen im ist, ist eine Teilmenge genau dann abgeschlossen in , wenn sie abgeschlossen im ist. Diese Äquivalenz gilt nicht für offene Mengen. Beispielsweise ist der Gesamtraum in offen, aber nicht im . Die Menge
-
gehört zu und heißt der Rand von . Er ist homöomorph zu
(was bei als leer zu interpretieren ist).
Mit bezeichnet man die positive Hälfte, also , die eine offene Teilmenge im ist.
Die Halbräume bilden die Standardmodelle für die Mannigfaltigkeiten mit Rand, die wir jetzt einführen wollen. Es handelt sich dabei um eine Verallgemeinerung des Mannigfaltigkeitsbegriffes. Ein typisches Beispiel für eine Mannigfaltigkeit mit Rand ist die abgeschlossene Vollkugel; ihr Rand ist die Sphäre. Ein Punkt im Innern der Kugel besitzt eine kleinere offene Kugelumgebung, in einem solchen Punkt sieht es also „lokal“ so aus wie im . Ein Punkt auf dem Rand der Kugel besitzt nicht eine solche Umgebung, sondern in jeder offenen Umgebung davon ist der Rand gegenwärtig; ein solcher Randpunkt sieht lokal wie ein Halbraum aus.
Die Karten einer Mannigfaltigkeit mit Rand werden offene Mengen in einem Halbraum sein. Für die Übergangsabbildungen müssen wir daher von differenzierbaren Abbildungen, die auf Halbräumen definiert sind, sprechen können. Dies ermöglicht die folgende Definition.
Der neue Differenzierbarkeitsbegriff wird also auf den alten zurückgeführt. Für eine offene Menge , die den Rand von nicht trifft, ist dies gleichbedeutend mit der Definition für eine offene Menge im .
Mit dieser Strategie, Begriffe für Randpunkte über die Existenz von offenen Umgebungen mit fortgesetzten Objekten zu definieren, übertragen sich viele wichtige Konzepte auf die neue allgemeinere Situation, was wir nicht immer im Einzelnen ausführen werden. Bspw. ist klar, was ein Diffeomorphismus von offenen Mengen im Halbraum und was das totale Differential einer differenzierbaren Abbildung ist. Auch die Definition einer Mannigfaltigkeit mit Rand ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend.