Kurs:Funktionentheorie (Osnabrück 2023-2024)/Vorlesung 20/kontrolle
- Homotopie von Wegen
Wir haben schon öfters gezeigt, dass gewisse Wegintegrale zu einer Differentialform gleich sind (Korollar 12.12, Satz 13.1, Satz 13.3) bzw. gezeigt, dass man bei der Bestimmung von Wegintegralen Wege durch andere Wege ersetzen kann, wie beispielsweise in Korollar 13.5. Um diese Ergebnisse besser verstehen und erweitern zu können, ist es nötig, zu untersuchen, welche Relation zwischen Wegen garantiert, dass die zugehörigen Wegeintegrale (zu beliebigen holomorphen Differentialformen) übereinstimmen. Es wird sich herausstellen, dass hier eine rein topologische Relation, die Homotopie, entscheidend ist. Die beiden folgenden Vorlesungen werden daher rein topologisch sein und sich mit der Homotopie von Wegen, der Fundamentalgruppe und Überlagerungen beschäftigen. Anschließend können wir wichtige funktionentheoretische Sätze wie Satz 22.3, Korollar 22.4 (Homotopieprinzip) und den Residuensatz beweisen.
Es sei und seien stetige Wege in einen topologischen Raum mit der Eigenschaft, dass und gilt. Eine Homotopie relativ zu zwischen und ist eine stetige Abbildung
die die folgenden Eigenschaften erfüllt.
- für alle .
- für alle .
- für alle .
- für alle .
Zwei Wege
heißen homotop, wenn es eine solche Homotopie zwischen ihnen gibt. Man schreibt für homotope Wege. Die Homotopie ist eine Äquivalenzrelation auf der Menge der stetigen Wege von nach , die zugehörigen Äquivalenzklassen heißen Homotopieklassen.
Zwei stetige Wege, für die der Endpunkt des ersten Weges mit dem Anfangspunkt des zweiten Weges übereinstimmt, kann man miteinander verknüpfen, indem man zuerst den ersten Weg und anschließend den zweiten Weg durchläuft. Man spricht von der Hintereinanderlegung von Wegen und schreibt einfach , wobei zuerst durchlaufen wird. Als Definitionsbereich erhält man dabei das Intervall . Man kann aber, indem man die beiden Wege doppelt so schnell durchläuft, auch das Einheitsintervall als Definitionsbereich wählen. Unter dem Rückweg zu versteht man den entgegengesetzt durchlaufenen Weg, man bezeichnet ihn mit .
Es sei ein topologischer Raum und seien Punkte. Dann gelten folgende Aussagen.
- Die Homotopie zwischen stetigen Wegen von nach mit als Anfangspunkt und als Endpunkt ist eine Äquivalenzrelation.
- Wenn und zueinander homotop sind, so sind auch die Rückwege und zueinander homotop.
- Wenn und homotope Wege von nach und und homotope Wege von nach sind, so sind auch die Verknüpfungen und homotop.
- Die Hintereinanderlegung ist zum konstanten Weg homotop.
Siehe Aufgabe 20.5, Aufgabe 20.9, Aufgabe 20.6 und Aufgabe 20.8.
- Die Fundamentalgruppe
Es sei ein topologischer Raum, den wir als wegzusammenhängend voraussetzen wollen, zu je zwei Punkten gibt es also einen stetigen Weg
mit und . Ein Weg heißt geschlossen, wenn ist, wenn also der Startpunkt mit dem Endpunkt übereinstimmt. Dieser Punkt heißt dann auch Aufpunkt des Weges. Häufig betrachtet man stetige geschlossene Wege in als stetige Abbildungen .
Zu geschlossenen homotopen Wegen und sind auch die Verknüpfungen und zueinander homotop. Dies erlaubt eine Verknüpfung auf der Menge der Äquivalenzklassen von homotopen geschlossenen Wegen mit Aufpunkt , die die Fundamentalgruppe heißt.
Es sei ein topologischer Raum und ein Punkt. Unter der Fundamentalgruppe von mit Aufpunkt versteht man die Menge aller Homotopieklassen von stetigen geschlossenen Wege mit Anfangs- und Endpunkt mit der Hintereinanderlegung von Wegen als Verknüpfung.
Diese Menge ist mit dem konstanten Weg
(also der Homotopieklasse des konstanten Weges)
als neutralem Element in der Tat eine Gruppe. Die Assoziativität ist dabei nicht völlig selbstverständlich, da drei geschlossene Weg je nach Klammerung zu unterschiedlichen Wegen auf dem Einheitsintervall führen. Die entstehenden Wege sind aber homotop, sodass auf den Homotopieklassen die Assoziativität gilt, siehe
Aufgabe 20.10.
Die inverse Homotopieklasse ist durch den entgegengesetzt durchlaufenen Weg gegeben. Deren Verknüpfung ist in der Tat homotop zum konstanten Weg, oder, wie man auch sagt, nullhomotop, siehe
Aufgabe 20.8.
Es sei ein wegzusammenhängender topologischer Raum und seien Punkte.
Dann sind die Fundamentalgruppen und und zueinander isomorph.
Beweis
Man beachte, dass hierbei der Isomorphismus nicht kanonisch gegeben ist, sondern von der Wahl eines Verbindungsweges von nach abhängt. Die Aussage ist der Grund, dass man häufig einfach ohne einen expliziten Aufpunkt schreibt.
- Kontrahierbare und einfach zusammenhängende Räume
Ein topologischer Raum heißt einfach zusammenhängend, wenn er wegzusammenhängend ist und wenn jeder stetige geschlossene Weg in nullhomotop ist.
Der einfache Zusammenhang bedeutet also, dass ist (für einen beliebigen Aufpunkt ).
Ein topologischer Raum heißt kontrahierbar (oder zusammenziehbar) auf einen Punkt , wenn es eine stetige Abbildung
derart gibt, dass die Eigenschaften
- ,
- ,
- für alle
gelten.
Beispielsweise ist der und jede sternförmige Menge im kontrahierbar und nach dem folgenden Satz auch einfach zusammenhängend.
Eine sternförmige Teilmenge
ist kontrahierbar.
Es sei sternförmig bezüglich des Punktes . Dann ist
eine Kontraktion von auf den Punkt .
Die Fundamentalgruppe eines kontrahierbaren Raumes
ist trivial.
Es sei
die Kontraktion des topologischen Raumes auf den Punkt und es sei
ein stetiger geschlossener Weg in mit Aufpunkt . Wir betrachten die zusammengesetzte Abbildung
und behaupten, dass dies eine Homotopie zwischen und dem konstanten Weg ergibt. Dies folgt aus
für alle ,
für alle ,
für alle und
für alle . Dies bedeutet, dass nullhomotop ist.
Ein kontrahierbarer Raum ist also einfach zusammenhängend.
- Die Fundamentalgruppe als Funktor
Zu einer stetigen Abbildung
und einem Punkt mit induziert ein stetiger geschlossener Weg mit Aufpunkt einen stetigen geschlossenen Weg in mit Aufpunkt . Diese Zuordnung ist mit Homotopien von Wegen verträglich, d.h. wenn zwei homotope Wege in mit Aufpunkt sind, so sind auch und homotop, siehe Aufgabe 20.19. Daher gibt es eine wohldefinierte Abbildung
Diese Abbildung ist sogar ein Gruppenhomomorphismus.
Es sei eine stetige Abbildung zwischen topologischen Räumen und mit .
Dann definiert die Zuordnung
einen Gruppenhomomorphismus
Beweis
Dieser Homomorphismus wird mit bezeichnet.
Es seien topologische Räume, es seien und
stetige Abbildungen und mit und . Dann erfüllen die zugehörigen Gruppenhomomorphismen zwischen den Fundamentalgruppen die folgenden Eigenschaften.
- Es ist
- Wenn und invers zueinander sind (was voraussetzt), so sind und invers zueinander.
- Wenn ein Homöomorphismus ist, dann ist ein Isomorphismus.
Beweis
- Deformationsretrakte
Ein Unterraum eines topologischen Raumes heißt Deformationsretrakt von , wenn es eine stetige Abbildung
gibt mit
für alle ,
für alle ,
für alle und alle .
Ein topologischer Raum ist genau dann kontrahierbar, wenn ein einzelner Punkt ein Deformationsretrakt des Gesamtraumes ist.
Wir betrachten den Kreis . Die Abbildung
ist stetig und zeigt, dass der Einheitskreis ein Deformationsretrakt der punktierten Ebene ist. Es ist ja
und für ist
Es sei ein Deformationsretrakt eines topologischen Raumes und .
Dann sind die Fundamentalgruppen und zueinander kanonisch isomorph.
Die kanonischen Abbildungen
zeigen, da die Hintereinanderschaltung die Identität ist, dass eine Untergruppe von ist. Es sei ein stetiger Weg in mit Aufpunkt . Wir müssen zeigen, dass er homotop zu einem Weg in ist. Wir betrachten dazu die zusammengesetzte Abbildung
und behaupten, dass dies eine Homotopie zwischen und dem Weg ist, der ganz in verläuft. Dies folgt aus
für alle ,
für alle ,
für alle und
für alle .