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Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2011-2012)/Teil II/Vorlesung 52

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Der Satz über implizite Abbildungen
In einer topographischen Karte wird ein Gebirge durch seine Niveaulinien (Höhenlinien) repräsentiert.


Die Küstenlinie ist die Nullfaser der Höhenabbildung. In den regulären Punkten der Küste kann man eine Tangente anlegen und die Küste lokal als Graph einer Funktion beschreiben. Ein singulärer Punkt einer Küste ergibt sich beispielsweise bei einer Meereserhebung, die genau in einem Punkt an die Wasseroberfläche stößt, oder einem Sattelpunkt zwischen „zwei“ Inseln, der sich auf Meeresniveau befindet.[1]



Zu einer Abbildung

zwischen zwei Mengen und heißt zu die Menge

die Faser von über .

Die Faser zu einem Punkt ist also einfach das Urbild von . Zu einem Punkt nennt man die Faser über auch die Faser durch . Bei sagt man statt Fasern auch Niveaumengen oder, insbesondere bei , auch Höhenlinien.


Wir betrachten die Funktion

Da diese nur nichtnegative Werte annimmt, sind die Fasern zu leer. Die Faser zum Wert besteht aus dem einzigen Punkt . Die Faser zu einem positiven Wert ist

das ist der Kreis mit dem Radius . Zu jedem Punkt ist die Faser (oder die Niveaumenge) durch diesen Punkt also ein Kreis . Eine hinreichend kleine offene Ballumgebung von enthält nur einen Teil des Kreisbogens, der homöomorph zu einem offenen Intervall ist. Die differenzierbare Abbildung

(mit geeignet gewählten Intervallgrenzen) induziert dabei eine Homöomorphie zwischen und dem Kreisbogenausschnitt .



Es sei , , eine Funktion in einer Variablen. Dazu kann man die Funktion in zwei Variablen,

betrachten. Die Fasern von über sind durch

charakterisiert. D.h. die Faser über ist einfach der Graph der durch definierten Funktion. Alle Fasern gehen durch eine Verschiebung ineinander über, sie sind parallel zueinander. Die Punkte einer jeden Faser stehen in Bijektion mit der -Achse, indem nämlich auf abgebildet wird.


Der Satz über implizite Abbildungen wird zeigen, dass unter gewissen Differenzierbarkeitsvoraussetzungen die Fasern einer Abbildung sich lokal als Graphen von Abbildungen realisieren lassen.

Eine Abbildung mit

führt unmittelbar zu einem Gleichungssystem

Die Lösungsmenge eines solchen Gleichungssystems ist gerade die Faser über . Man kann sich fragen, wie zu gegebenem die Lösungsmenge aussieht, welche Struktur sie hat und wie sie sich mit verändert. Das „grobe Muster“ zeigt sich schon deutlich bei einem linearen Gleichungssystem in Variablen und Gleichungen. Dort sind bei

und wenn die Gleichungen linear unabhängig sind, die Lösungsmengen -dimensionale affine Untervektorräume des . Insbesondere sind alle Lösungsmengen gleich und besitzen die gleiche Dimension.

Das Bestimmen der Lösungsmengen ist im Allgemeinen sehr viel schwieriger als im linearen Fall und auch gar nicht effektiv durchführbar. Dennoch vermittelt die lineare Approximation durch das totale Differential den richtigen Ansatz für das Studium allgemeiner Fasern. Eine reichhaltige Strukturaussage über die Gestalt der Faser in einem Punkt ist nur dann zu erwarten, wenn das totale Differential in surjektiv ist. In diesem Fall ist der Kern des totalen Differentials, also die Lösungsmenge des durch diese lineare Abbildung gegebenen linearen Gleichungssystems, tangential an die Faser durch , und man kann auf hinreichend kleinen offenen Mengen eine Bijektion zwischen dem Kern und der Faser stiften.


Der Querschnitt eines Achats. Die chemische Zusammensetzung variiert mit dem Ort und damit variiert auch die Frequenz des reflektierten Lichts, also die optische Erscheinung, mit dem Ort. Man sieht also die (verdickten) Fasern der Lichtabbildung.



Es sei offen und sei

eine stetig differenzierbare Abbildung. Es sei und es sei die Faser durch . Das totale Differential sei surjektiv.

Dann gibt es eine offene Menge , , eine offene Menge und eine stetig differenzierbare Abbildung

derart, dass ist und eine Bijektion

induziert.

Die Abbildung ist in jedem Punkt regulär und für das totale Differential von gilt


Den Satz über implizite Abbildungen kann man auch so formulieren: Es seien und endlichdimensionale reelle Vektorräume, offen und es sei eine stetig differenzierbare Abbildung. Es sei ein Punkt, in dem das totale Differential surjektiv sei, und es sei eine direkte Summenzerlegung von in Untervektorräume und (mit ) derart, dass und surjektiv (und damit bijektiv ist) ist (dadurch ist , aber nicht eindeutig festgelegt). Dann gibt es offene Mengen und mit und eine stetig differenzierbare Abbildung

derart, dass der Graph von , also

mit der Faser über , geschnitten mit , also

übereinstimmt. Sind auf und jeweils Basen fixiert mit Koordinaten bzw. ( und seien die Dimensionen von und ), so wird lokal die Faser durch den Graphen von Funktionen in den Variablen gegeben. Die Faser ist dann nach den Variablen „aufgelöst“, d.h. diese Koordinaten lassen sich unter der impliziten Bedingung, dass die Punkte zur Faser gehören sollen, explizit durch die anderen, frei wählbaren Koordinaten ausdrücken.



Es seien und endlichdimensionale reelle Vektorräume, es sei offen und sei

eine stetig differenzierbare Abbildung. Es sei ein Punkt, in dem das totale Differential surjektiv sei, und sei die Faser von durch . Dann nennt man

den Tangentialraum an die Faser in .

Häufig wird auch der an angelegte affine Raum

als Tangentialraum bezeichnet. In diesem Sinne ist der Tangentialraum kein Untervektorraum von , da er nicht durch den Nullpunkt verlaufen muss, er ist aber die Verschiebung eines Untervektorraums. Solche Räume nennt man affin-lineare Unterräume. Sie besitzen eine sinnvoll definierte Dimension, nämlich die Dimension des zugehörigen Vektorraumes. Der Tangentialraum an einem regulären Punkt zu einer Abbildung besitzt die Dimension . Der Satz über implizite Abbildungen besagt, dass eine offene Teilmenge des Tangentialraumes an sich bijektiv und differenzierbar auf eine offene Umgebung von auf der Faser abbilden lässt. Der Tangentialraum ist also eine lineare Approximation der Faser.


Wir betrachten die differenzierbare Funktion

Die Jacobi-Matrix dieser Funktion ist

sodass die Funktion in jedem Punkt regulär ist und der Satz über implizite Abbildungen anwendbar ist. In diesem Fall kann man die Fasern auch direkt bestimmen. Die Bedingung

mit führt auf , sodass die Fasern der Abbildung die punktierten Geraden (d.h. ein Punkt ist rausgenommen) durch den Nullpunkt sind (außer der -Achse, auf der die Abbildung nicht definiert ist). Damit hat man explizit eine Auflösung der Faser nach gegeben. Dass die Fasern unter dieser Divisionsabbildung (punktierte) Geraden sind ist ein Ausdruck davon, dass man Brüche erweitern kann, ohne ihren Wert zu ändern.

Der Tangentialraum in wird nach der Definition durch den Kern der Jacobi-Matrix gegeben, und dieser wird durch den Vektor selbst aufgespannt. Der Tangentialraum an ist hier also die Gerade, die durch und den Nullpunkt definiert ist, und stimmt (bis auf den Nullpunkt) mit der Faser überein.



Die Fasern der Abbildung für (rot) und (grün).

Wir betrachten die Abbildung

und knüpfen an Beispiel 50.9 an. Der einzige kritische Punkt ist , ansonsten ist die Abbildung in jedem Punkt regulär und daher lassen sich lokal die Fasern als Graphen beschreiben. Die Faser über besteht aus der durch gegebenen Geraden und der durch gegebenen Halbgeraden, die sich im kritischen Punkt senkrecht schneiden. Ansonsten sind die Fasern durch die Gleichung

mit einem , , bestimmt (für nichtpositives sind die Fasern leer). Wir schreiben diese Bedingung als und daher als

Wegen kann man dies zu auflösen und wegen zu

Die Faser besteht jeweils aus zwei Komponenten, die bzw. entsprechen.




Der Satz über die injektive Abbildung

Als ein weiteres Korollar aus dem Satz über die Umkehrabbildung besprechen wir die Situation, wo das totale Differential injektiv ist.



Es seien und endlichdimensionale reelle Vektorräume, sei offen und sei

eine stetig differenzierbare Abbildung. Es sei ein Punkt, in dem das totale Differential injektiv sei.

Dann gibt es eine offene Umgebung , , derart, dass injektiv ist.




Fußnoten
  1. Dass man solche singulären Punkte in der Natur nur selten antrifft, liegt daran, dass das Höhenprofil der Erde nur endlich viele kritische Punkte und damit nur endlich viele Gipfel und Sattelpunkte besitzt. Es ist daher unwahrscheinlich, dass der Meeresspiegel genau auf der Höhe eines solchen kritischen Punktes liegt. Wenn man aber Ebbe und Flut betrachtet, so werden solche Punkte immer wieder durchlaufen.



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