Zum Inhalt springen

Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Teil II/Vorlesung 31

Aus Wikiversity

In dieser Vorlesung entwickeln wir die Integrationstheorie weiter, und zwar untersuchen wir die Frage, was passiert, wenn wir in einem Integral die Intervallgrenzen gegen unendlich oder gegen eine Zahl, wo die Funktion nicht definiert ist, wandern lassen.



Uneigentliche Integrale

Wir knüpfen an Beispiel 24.9 an, d.h., es liegen zwei Massen und vor, die untereinander den Abstand besitzen. Wie viel Energie muss man aufwenden, um die beiden Massen unendlich weit voneinander zu entfernen? In Beispiel 24.9 haben wir die Energie berechnet, um den Abstand von auf zu erhöhen, und erhielten

Für ist und daher ist .


Dieses Beispiel zeigt, dass es sinnvoll sein kann, bei bestimmten Integralen die Intervallgrenzen „gegen unendlich laufen zu lassen“. Dies führt zum Begriff der uneigentlichen Integrale.

Unter einem (uneigentlichen) Randpunkt eines (ein- oder beidseitig) unbeschränkten Intervalls verstehen wir im Folgenden auch die Symbole und . Dies heißt nicht, dass diese Symbole zu gehören, sondern lediglich, dass man dafür sinnvolle Grenzwertbetrachtungen durchführen kann. Die Definition für den Grenzwert einer Funktion gegen bzw. lautet folgendermaßen.


Es sei (oder ) ein rechtsseitig (bzw. linksseitig) unbeschränktes Intervall und

eine Funktion. Dann heißt Grenzwert (oder Limes) von für (bzw. ), wenn es für jedes ein (bzw. ) gibt mit für alle (bzw. ). In diesem Fall schreibt man

(bzw. ).

Die Rechenregeln für diesen Grenzwertbegriff (siehe Aufgabe 31.2) sind weitgehend analog zu den Rechenregeln für den bisherigen Grenzwertbegriff für Funktionen (siehe Lemma 12.12). Sie sind auch analog zu den Rechenregeln für Limiten von Folgen (siehe Lemma 6.1).


Es sei ein Intervall, ein (uneigentlicher) Randpunkt von und . Es sei eine stetige Funktion

gegeben. Man sagt, dass das uneigentliche Integral zu für existiert, wenn der Grenzwert

existiert. In diesem Fall schreibt man für diesen Grenzwert auch

und nennt dies das uneigentliche Integral von nach

Die Funktion , der blaue Flächeninhalt repräsentiert das (beidseitig) uneigentliche Integral.

Die Existenz dieses uneigentlichen Integrals hängt nicht vom gewählten Intervallpunkt ab, wohl aber der Wert des uneigentlichen Integrals. Die inhaltliche Interpretation des uneigentlichen Integrals ist wiederum der Flächeninhalt unterhalb des Funktionsgraphen, aber erstreckt über ein nicht notwendigerweise kompaktes Intervall. Wenn für die Funktion eine Stammfunktion bekannt ist, so geht es um das Bestimmen des Grenzwertes

Die Frage, ob eine uneigentliches Integral existiert, ist nur relevant, wenn ein uneigentlicher Randpunkt oder ist oder wenn der eigentliche Randpunkt eines an dieser Stelle halboffenen Intervalls ist.



Es sei ein reelles Intervall, und sei ein (uneigentlicher) Randpunkt von . Es seien

stetige Funktionen mit

und es sei vorausgesetzt, dass das uneigentliche Integral

existiert.

Dann existiert auch das uneigentliche Integral

und es gilt

Wir behandeln den Fall, wo die obere Intervallgrenze ist. Für alle ist

wegen für alle . Wegen der Nichtnegativität von und von wachsen beide Seite bei , und die rechte Seite ist durch das uneigentliche Integral beschränkt. Nach Satz 7.5 existiert der Grenzwert



Es sei mit . Wir interessieren uns für die uneigentlichen Integrale zu für von bis . Dabei ist die Funktion bei der Intervallgrenze (bei negativem ) nicht definiert, das ist also der kritische Randpunkt. Bei ist eine Stammfunktion von . Daher ist

und der Grenzwert für existiert nicht. Das uneigentliche Integral existiert also nicht.

Es sei nun . Dann ist eine Stammfunktion zu und daher ist

Da es sich rechts um eine Potenz von mit einem negativen Exponenten handelt, ist nach der inversen Version von Aufgabe 17.4.

Das uneigentliche Integral existiert also nicht. Dies folgt übrigens auch aus Lemma 31.4, da ja für und gilt.

Es sei nun . Dann ist eine Stammfunktion zu und daher ist

Da es sich um eine Potenz von mit einem positiven Exponenten handelt, ist (nach Aufgabe 17.4). Das uneigentliche Integral existiert also und besitzt den Wert .



Es sei mit . Wir interessieren uns für das uneigentliche Integral zu für von bis . Der kritische (uneigentliche) Randpunkt ist also . Bei ist eine Stammfunktion von . Daher ist

und der Grenzwert für existiert nicht. Das uneigentliche Integral existiert also nicht.

Es sei nun . Dann ist eine Stammfunktion zu und daher ist

Da es sich um eine Potenz von mit einem negativen Exponenten handelt, ist . Das uneigentliche Integral existiert also und besitzt den Wert .

Bei ist für und daher kann nach Lemma 31.4 das uneigentliche Integral nicht existieren.



Wir wollen das uneigentliche Integral berechnen. Nach Lemma 27.8 ist

Die Stammfunktion von ist . Die untere Intervallgrenze ergibt den Wert , für die obere Intervallgrenze ergibt sich

Daher hat das uneigentliche Integral der Wert .



Es sei ein Intervall mit den beiden (uneigentlichen) Randpunkten und von . Es sei eine stetige Funktion

gegeben. Man sagt, dass das (beidseitig) uneigentliche Integral

existiert, wenn für ein die beiden einseitig uneigentlichen Integrale

existieren. In diesem Fall setzt man

und nennt dies das uneigentliche Integral zu von nach .

Die Existenz des beidseitig uneigentlichen Integrals hängt nicht von der Wahl des Punktes ab. Darüber hinaus hängt der Wert dieses Integrals, falls es existiert, ebenso wenig von dem gewählten Punkt ab.

Die Funktion ist die Dichtefunktion der Gaußschen Normalverteilung. Der Flächeninhalt unterhalb der Kurve ist .

Die Funktion ist nicht elementar integrierbar, d.h., man kann keine geschlossene Stammfunktion mit rationalen Funktionen, Exponentialfunktion, trigonometrischen Funktionen und ihren Umkehrfunktionen angeben. Es ist

was wir hier ohne Beweis mitteilen, siehe Lemma 74.6. Durch eine einfache Substitution ergibt sich daraus

Dieses Integral nennt man Fehlerintegral; es spielt in der Stochastik eine wichtige Rolle.




Vergleichskriterien mit Reihen



Es sei ein rechtsseitig unbeschränktes Intervall und sei

eine stetige fallende Funktion mit für alle .

Dann existiert das uneigentliche Integral

genau dann, wenn die Reihe

konvergiert.

Wenn das uneigentliche Integral existiert, so betrachten wir die Abschätzung

die darauf beruht, dass die linke Seite das Treppenintegral zu einer unteren Treppenfunktion für auf ist. Da die rechte Seite beschränkt ist, gilt dies auch für die linke Seite, sodass wegen die Reihe konvergiert.
Ist umgekehrt die Reihe konvergent, so betrachten wir die Abschätzung

die gilt, da die rechte Seite das Treppenintegral zu einer oberen Treppenfunktion ist. Wegen ist die Integralfunktion wachsend und beschränkt, da die rechte Seite wegen der Konvergenz der Reihe beschränkt ist. Daher besitzt die Integralfunktion für einen Grenzwert und das uneigentliche Integral existiert.



Die Funktion

ist streng fallend. Daher ist die Funktion , die für mit () durch definiert ist, eine „Majorante“ für , also . Auf jedem Intervall liefert eine obere Treppenfunktion zu . Ebenso liefert die durch bei definierte Funktion eine untere Treppenfunktion für . Daher gelten die Abschätzungen

Das Integral in der Mitte besitzt den Wert . Daraus ergibt sich mit Lemma 31.10 ein neuer Beweis, dass die harmonische Reihe divergiert.

Die blaue Fläche stellt die Eulersche Konstante dar, die Darstellung ist überhöht.

Die Differenz zwischen der linken und der rechten Summe ist . Daher ist die Differenz

für jedes positiv, mit wachsend und nach oben beschränkt. Daher existiert für der Limes, und dieser Limes ändert sich nicht, wenn man vorne in der Summe bis aufsummiert anstatt bis . Wir setzen

und nennen sie die eulersche Konstante (oder Mascheronische Konstante). Ihr numerischer Wert ist ungefähr

Es ist ein offenes mathematisches Problem, ob diese Zahl rational ist oder nicht.


Die Riemannsche Zeta-Funktion im Reellen

Nach Beispiel 31.6 existiert für das uneigentliche Integral , sodass aufgrund von Lemma 31.10 auch die Reihen konvergieren. Daher ist die folgende Funktion wohldefiniert.


Die Riemannsche -Funktion ist für  mit durch

definiert.

Diese Funktion lässt sich komplex fortsetzen und spielt eine wichtige Rolle in der Zahlentheorie.


<< | Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Teil II | >>

PDF-Version dieser Vorlesung

Arbeitsblatt zur Vorlesung (PDF)