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Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Teil III/Vorlesung 63/kontrolle

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Wir beschäftigen uns weiter mit der Frage, welchen Teilmengen des man ein sinnvolles Volumen zuordnen kann. Es wird sich herausstellen, dass diese „messbaren Mengen“ eine -Algebra bilden, nämlich die -Algebra der Borel-Mengen. Diese ist zwar sehr groß, und zwar gehören nahezu alle irgendwie „kohärent beschreibbaren“ Teilmengen dazu, aber eben doch nicht alle. Die Borel-Mengen explizit zu beschreiben, ist nicht möglich, stattdessen gibt man ein einfaches Erzeugendensystem für diese -Algebra an, nämlich die Menge aller offenen Teilmengen des euklidischen Raumes. Es empfiehlt sich, diese Konstruktion sofort für topologische Räume durchzuführen.



Topologische Räume

Die Menge der offenen Teilmengen des , oder allgemeiner eines metrischen Raumes, bilden ein Mengensystem, dass eine Topologie im Sinne der folgenden Definition ist.


Es sei eine Menge. Eine Familie von Teilmengen von heißt Topologie auf , wenn die folgenden Axiome erfüllt sind:

  1. Es ist und .
  2. Sind und , so ist auch .
  3. Ist eine Indexmenge und für alle , so ist auch .

Ein topologischer Raum ist ein Paar , wobei eine Menge und eine Topologie auf ist.

Die Teilmengen von , die zu gehören, heißen offene Mengen. Eine Teilmenge heißt abgeschlossen, wenn ihr Komplement offen ist, also zur Topologie gehört.


Ein topologischer Raum heißt hausdorffsch, wenn es zu je zwei verschiedenen Punkten offene Mengen und mit , und mit gibt.


Es sei ein topologischer Raum. Ein System von offenen Mengen in heißt Basis der Topologie, wenn man jede offene Menge in als Vereinigung von offenen Mengen aus erhalten kann.


Es sei ein topologischer Raum. Man sagt, dass eine abzählbare Basis besitzt, wenn es eine Basis der Topologie gibt, die nur aus abzählbar vielen offenen Mengen besteht.

Im gibt es überabzählbar viele offene Mengen, es gibt aber eine abzählbare Basis, nämlich alle offenen Bälle , deren Mittelpunktskoordinaten und deren Radien rationale Zahlen sind.


Eine Abbildung

zwischen topologischen Räumen und heißt stetig, wenn Urbilder von offenen Mengen wieder offen sind.

Diese Definition stimmt wegen Satz 20.3 mit der Definition für metrische Räume überein.


Zwei topologische Räume und heißen homöomorph, wenn es eine bijektive stetige Abbildung

gibt, deren Umkehrabbildung ebenfalls stetig ist.


Es sei ein topologischer Raum und eine Teilmenge. Folgende Vorschrift definiert eine Topologie auf : Für eine Teilmenge gilt genau dann, wenn es eine in offene Menge derart gibt, dass gilt.



Borel-Mengen

Es sei ein topologischer Raum. Dann nennt man die von erzeugte - Algebra die Menge der Borel-Mengen von .

Insbesondere nennt man im die durch die Topologie zur euklidischen Metrik definierte -Algebra die Menge der Borel-Mengen. Dies ist ein extrem reichhaltiger Begriff; es ist nämlich gar nicht einfach, eine Teilmenge des anzugeben, die keine Borel-Menge ist. Da es auf jedem endlichdimensionalen Vektorraum zwar keine natürliche Metrik, aber doch nach Lemma 40.1 eine natürliche Topologie gibt, gibt es auf diesen Räumen ein wohldefiniertes Konzept von Borel-Mengen.



Die folgenden Teilmengen des sind Borel-Mengen.

  1. Alle offenen Teilmengen des .
  2. Alle abgeschlossenen Teilmengen des .
  3. Alle abzählbaren Teilmengen des .
  4. Alle abgeschlossenen Kugeln und alle offenen Kugeln .
  5. Alle abgeschlossenen Quader und alle offenen Quader .

(1) folgt aus der Definition der Borel-Mengen. (2) folgt aus (1), da eine - Algebra mit einer Menge auch stets deren Komplement enthält, und die abgeschlossenen Mengen die Komplemente der offenen Mengen sind. (3). Einpunktige Mengen im sind abgeschlossen und daher Borel-Mengen. Damit ist auch jede abzählbare Punktmenge als eine abzählbare Vereinigung von einpunktigen Teilmengen eine Borel-Menge. (4) und (5) sind Spezialfälle von (1) und (2).


Wie gesagt, Borel-Mengen sind ein recht umfassender Begriff. Andererseits wird die -Algebra der Borel-Mengen bereits durch die Menge aller Quader erzeugt, also durch diejenigen Teilmengen, für die unmittelbar ein sinnvoller Volumenbegriff existiert.



Lemma  Lemma 63.10 ändern

Die Menge der Borel-Mengen im stimmt mit der von der Menge aller offenen Quader erzeugten - Algebra überein.

Dabei kann man sich sogar auf die Menge der offenen achsenparallelen Quader mit rationalen Eckpunkten beschränken.

Wir beweisen den Zusatz. Es genügt zu zeigen, dass jede offene Menge im sich als eine abzählbare Vereinigung von achsenparallelen offenen Quadern mit rationalen Eckpunkten schreiben lässt. Da die Menge der rationalen Zahlen abzählbar ist, ist auch die Menge aller Quader mit rationalen Ecken abzählbar. Wir müssen daher nur zeigen, dass jede offene Menge eine Vereinigung von offenen achsenparallelen Quadern mit rationalen Ecken ist. Es sei dazu offen und sei ein Punkt. Daher gibt es ein , das wir rational wählen können, mit

Jede Koordinate ist eine reelle Zahl, und damit der Limes einer Folge von rationalen Zahlen. Sei

mit

für alle . Damit ist einerseits

und andererseits gilt für die Beziehung

also . Damit ist . Die Vereinigung dieser so konstruierten Quader ist genau .



Lemma  Lemma 63.11 ändern

Es seien und topologische Räume, die wir als Messräume mit den zugehörigen - Algebren der Borelmengen auffassen.

Dann ist jede stetige Abbildung

messbar.

Nach Definition bedeutet die Stetigkeit, dass das Urbild von jeder offenen Menge offen in ist. Nach Definition ist das Mengensystem der offenen Mengen einer Topologie ein Erzeugendensystem für die Algebra der Borelmengen. Nach Lemma 62.15 ist somit messbar.




Maße und Maßräume

In der Praxis gibt man einen Flächeninhalt in Quadratmeter und ein Volumen in Kubikmeter an. Diese Einheiten legen die Skala fest, auf der dann mit nichtnegativen reellen Zahlen gemessen wird. Als Wertemenge für ein Maß bieten sich demnach die nichtnegativen reellen Zahlen an. Besitzt der Gesamtraum ein Volumen? Sicherlich keines, das durch eine reelle Zahl ausgedrückt werden könnte. Daher erlaubt man bei einem Maß auch den Wert , und setzt

Das bedeutet nicht, dass wir die reellen Zahlen ändern, sondern dass wir im maßtheoretischen Kontext mit einer bestimmten Mengenerweiterung der reellen Zahlen arbeiten. Einen Teil der Rechenoperationen dehnen wir auf die zusätzlichen Symbole aus, aber nicht alles, wobei man sich von der maßtheoretischen Zweckmäßigkeit leiten lässt. Die Ordnungsrelation wird durch

für jede reelle Zahl ausgedehnt. Wir setzen
für . Der Ausdruck ist nicht definiert. Für positive reelle Zahlen ist , und wir setzen .



Es sei eine Menge und ein Mengen-Präring auf . Dann heißt eine Abbildung

ein Prämaß auf , wenn folgende Bedingung erfüllt ist.

Für jede abzählbare Familie von paarweise disjunkten Teilmengen , , aus , für die ebenfalls zu gehört, gilt

Wenn man die leere Indexmenge betrachtet, so folgt aus der Definition die Eigenschaft , da die leere Summe als angesetzt wird. Wenn man diese Interpretation zu spitzfindig findet, so muss man diese Eigenschaft explizit fordern.


Es sei eine Menge und eine - Algebra auf . Ein Prämaß auf nennt man ein Maß.

Ein Maß unterscheidet sich also von einem Prämaß nicht durch die strukturellen Eigenschaften, sondern lediglich durch Eigenschaften des Definitionsbereiches. Letztlich ist man an Maßen interessiert, doch Prämaße sind für deren Konstruktion wichtige Zwischenschritte.


Eine Menge , auf der eine - Algebra und ein Maß

erklärt ist, heißt ein Maßraum. Man schreibt dafür kurz .

Mit der folgenden Definition ist die Wahrscheinlichkeitstheorie ein Spezialfall der Maßtheorie.


Ein Wahrscheinlichkeitsraum ist ein Maßraum mit .



Beispiele für diskrete Maße

Wir besprechen kurz einige „diskrete Maße“. Das für uns wichtigste Maß, das Borel-Lebesgue-Maß auf dem , ist kein diskretes Maß, sondern ein „stetiges Maß“.


Es sei eine Menge und es sei

eine Funktion, die wir Belegungsfunktion nennen. Dann wird für jede Teilmenge durch die Zuordnung

ein Maß auf definiert. Dabei ist die Summe als der Grenzwert zu interpretieren, falls die Familie , , summierbar ist, und andernfalls als . Dass es sich dabei um ein Maß handelt folgt aus dem großen Umordnungssatz, und zwar gilt die Summationseigenschaft sogar für beliebige disjunkte Vereinigungen, nicht nur für abzählbare. Man spricht von einem Summationsmaß.

Wenn die Belegungsfunktion für jedes einen positiven Wert annimmt, so folgt aus Aufgabe 61.11, dass das Maß jeder überabzählbaren Menge den Wert zuweist. Wenn andererseits die Belegungsfunktion für jedes den Wert annimmt, so liegt das Nullmaß vor, d.h. jede Menge hat das Maß . Insbesondere kann man über diesen Weg kein Maß auf gewinnen, das zugleich dem Einheitsintervall den Wert und jedem einzelnen Punkt das gleiche Maß zuweist.


Von diesen Summationsmaßen bekommen wiederum einige einen eigenen Namen.


Auf einer Menge nennt man das auf durch

definierte Maß das Zählmaß auf .

Das Zählmaß ist das Summationsmaß zur konstanten Belegungsfunktion .


Es sei eine Menge und ein Punkt. Das auf durch

definierte Maß heißt das im Punkt konzentrierte Dirac-Maß auf .


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