Kurs:Riemannsche Flächen (Osnabrück 2022)/Vorlesung 4
- Der Tangentialraum
Holomorphe Funktionen auf einer offenen Menge von sind komplex-differenzierbar. Wie „differenziert“ man eine holomorphe Funktion auf einer riemannschen Fläche? Nach Lemma 3.2 ist für jede Karte mit und offen die Funktion holomorph auf und somit ist für einen Punkt die Ableitung eine wohldefinierte komplexe Zahl. Diese hängt aber wesentlich von der gewählten Karte ab. Um ein wohlbestimmtes Differenzierbarkeitskonzept für komplexe Mannigfaltigkeiten zu entwickeln, muss man einen anderen Weg gehen. Wir rekapitulieren ohne Beweise die Konstruktion des reellen Tangentialraumes für eine reell-differenzierbare Mannigfaltigkeit mit der Hilfe von tangentialen Kurven und führen dann für eine komplexe Mannigfaltigkeit die entsprechende Konstruktion mit holomorphen Kurven durch, die den komplexen Tangentialraum ergibt, der auf dem zugrunde liegenden reellen Tangentialraum einfach eine zusätzliche komplexe Struktur ergibt.
Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Es seien
und
zwei auf offenen Intervallen definierte differenzierbare Kurven mit . Dann heißen und tangential äquivalent in , wenn es eine offene Umgebung und eine Karte
mit derart gibt, dass
gilt.
Wir brauchen einige einfache Lemmata, um nachzuweisen, dass es sich hierbei um einen sinnvollen Begriff handelt.
Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Es seien
und
zwei auf offenen Intervallen definierte differenzierbare Kurven mit .
Dann sind und genau dann tangential äquivalent in , wenn für jede Karte
mit und die Gleichheit
gilt.
Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit und ein Punkt.
Dann ist die tangentiale Äquivalenz von differenzierbaren Kurven durch eine Äquivalenzrelation.
Aufgrund dieses Lemmas ist die folgende Definition sinnvoll.
Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Unter einem Tangentialvektor an versteht man eine Äquivalenzklasse von tangential äquivalenten differenzierbaren Kurven durch . Die Menge dieser Tangentialvektoren wird mit
bezeichnet.
Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit, ein Punkt, offen und
eine Karte. Dann gelten folgende Aussagen.
- Die
Abbildung
ist eine wohldefinierte Bijektion.
- Die durch diese Abbildung auf definierte Vektorraumstruktur ist unabhängig von der gewählten Karte.
Es sei eine differenzierbare Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Unter dem Tangentialraum an , geschrieben , versteht man die Menge der Tangentialvektoren an versehen mit der durch eine beliebige Karte gegebenen reellen Vektorraumstruktur.
Die Dimension des Tangentialraumes stimmt mit der Dimension der Mannigfaltigkeit überein. Jede Karte induziert einen Isomorphismus zwischen und dem , aber diese Isomorphismen hängen von der gewählten Karte ab. Insbesondere gibt es auf dem Tangentialraum keine Standardbasis.
- Der komplexe Tangentialraum
Da eine komplexe Mannigfaltigkeit der komplexen Dimension insbesondere eine reell-differenzierbare Mannigfaltigkeit der reellen Dimension ist, gibt es auf ihr zu jedem Punkt einen wohldefinierten reellen Tangentialraum der Dimension . Wir möchten zeigen, dass dieser in kanonischer Weise auch ein komplexer Vektorraum der komplexen Dimension ist. Dazu werden wir zuerst die reelle Konstruktion mit holomorphen Kurven nachbilden und dann den so entstandenen komplexen Tangentialraum mit dem reellen Tangentialraum identifizieren. Für komplexe Mannigfaltigkeiten definiert man holomorphe Abbildungen wie im Fall von riemannschen Flächen unter Bezug auf Karten. Eine holomorphe Kurve auf ist einfach eine holomorphe Abbildung , die auf einer offenen Kreisscheibe definiert ist. Die Holomorphie bezieht sich auf Karten von . Da die folgenden Überlegungen lokal sind, kann man die Kreisscheiben verkleinern und dann annehmen, dass die holomorphe Kurve ganz in einem Kartengebiet landet.
Es sei eine komplexe Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Es seien
und
zwei auf offenen Bällen definierte holomorphe Kurven mit . Dann heißen und tangential äquivalent in , wenn es eine offene Umgebung und eine Karte
mit derart gibt, dass
gilt.
Wir brauchen einige einfache Lemmata, um nachzuweisen, dass es sich hierbei um einen sinnvollen Begriff handelt.
Es sei eine komplexe Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Es seien
und
zwei auf offenen Bällen definierte holomorphe Kurven mit .
Dann sind und genau dann tangential äquivalent in , wenn für jede Karte
mit und die Gleichheit
gilt.
Für eine holomorphe Kurve
mit und und eine Karte
(mit und ) ändert sich der Ausdruck
nicht, wenn man zu einem kleineren offenen Ball und einer kleineren offenen Menge (mit der induzierten Karte) übergeht. Wir können also davon ausgehen, dass und auf dem gleichen offenen Ball definiert sind und ihre Bilder in liegen, und dass es für dieses zwei Karten
und
gibt. Dann folgt aus
nach der Kettenregel unter Verwendung der komplexen Differenzierbarkeit der Übergangsabbildung sofort
Es sei eine komplexe Mannigfaltigkeit und ein Punkt.
Dann ist die tangentiale Äquivalenz von holomorphen Kurven durch eine Äquivalenzrelation.
Die Reflexiviät und die Symmetrie der Relation sind unmittelbar klar. Zum Nachweis der Transitivität seien drei holomorphe Kurven
gegeben, wobei wir sofort annehmen dürfen, dass sie auf dem gleichen offenen Ball definiert sind. Es seien offene Mengen, mit denen man die tangentiale Gleichheit von und bzw. von und nachweisen kann. Dann kann man nach Lemma 4.8 mit die tangentiale Gleichheit von und nachweisen.
Aufgrund dieses Lemmas ist die folgende Definition sinnvoll.
Es sei eine komplexe Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Unter einem Tangentialvektor an versteht man eine Äquivalenzklasse von tangential äquivalenten holomorphen Kurven durch . Die Menge dieser Tangentialvektoren wird mit
bezeichnet.
Es sei eine komplexe Mannigfaltigkeit, ein Punkt und eine Karte. Dann gelten folgende Aussagen.
- Die
Abbildung
ist eine wohldefinierte Bijektion.
- Die durch diese Abbildung auf definierte - Vektorraumstruktur ist unabhängig von der gewählten Karte.
(1). Die Wohldefiniertheit der Abbildung ist wegen Lemma 4.8 klar. Die Injektivität folgt unmittelbar aus der Definition 4.7. Zur Surjektivität sei . Wir betrachten die affin-lineare Kurve
dessen Ableitung in gerade ist. Wir schränken diese Kurve auf einen Ball derart ein, dass ist und betrachten
Für diese Kurve gilt
und
(2). Durch Übergang zu kleineren offenen Mengen können wir annehmen, dass zwei Karten
und
vorliegen. Die Übergangsabbildung
ist biholomorph und für ihr totales Differential in gilt nach der Kettenregel die Beziehung
Das bedeutet, dass das Diagramm
wobei vertikal das totale Differential zu steht, kommutiert. Da das totale Differential eine
lineare Abbildung
ist, die in der gegebenen Situation bijektiv ist, macht es keinen Unterschied, ob man die Addition und die Skalarmultiplikation auf unter Bezug auf die obere oder die untere horizontale Abbildung definiert.
Es sei eine komplexe Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Unter dem Tangentialraum an , geschrieben , versteht man die Menge der Tangentialvektoren an versehen mit der durch eine beliebige Karte gegebenen komplexen Vektorraumstruktur.
Die Dimension des Tangentialraumes als komplexer Vektorraum stimmt mit der komplexen Dimension der Mannigfaltigkeit überein. Jede Karte induziert einen Isomorphismus zwischen und dem , aber diese Isomorphismen hängen von der gewählten Karte ab. Insbesondere gibt es auf dem Tangentialraum keine Standardbasis.
Es sei eine komplexe Mannigfaltigkeit und ein Punkt.
Dann gibt es eine natürliche Identifizierung zwischen dem komplexen Tangentialraum und dem Tangentialraum in von als differenzierbare Mannigfaltigkeit.
Wir schreiben und für den komplexen bzw. den reellen Tangentialraum. Dabei ist ein komplexer Vektorraum der komplexen Dimension , wobei die komplexe Dimension der komplexen Mannigfaltigkeit ist. Damit ist insbesondere ein reeller Vektorraum der reellen Dimension . Da als reelle differenzierbare Mannigfaltigkeit die Dimension besitzt, hat auch die reelle Dimension . Wir betrachten die Abbildung
die einem holomorphen Tangentialvektor, der durch eine holomorphe Kurve mit und repräsentiert wird, den reellen Tangentialvektor zuordnet, der durch den reellen differenzierbaren Weg repräsentiert wird. Diese Abbildung ist wohldefiniert und - linear. Zum Nachweis der Bijektivität betrachten wir zu einer Karte das Diagramm
wobei die horizontalen Abbildungen die Bijektionen aus Lemma 4.5 bzw. Lemma 4.11 sind. Wegen
ist das Diagramm kommutativ, daher ist die linke vertikale Abbildung ein reeller Isomorphismus.
- Das Tangentialbündel
Es sei eine komplexe Mannigfaltigkeit. Dann nennt man die Menge
versehen mit der Projektionsabbildung
das Tangentialbündel von .
Es sei eine komplexe Mannigfaltigkeit der Dimension und
das Tangentialbündel, versehen mit der Projektionsabbildung
Das Tangentialbündel wird mit derjenigen Topologie versehen, bei der eine Teilmenge genau dann offen ist, wenn für jede Karte
die Menge offen in ist.
Das Tangentialbündel zu einer offenen Menge ist einfach mit der Produkttopologie. Zu einer offenen Menge ist eine offene Teilmenge. Wenn eine Karte vorliegt, so liegt ein kommutatives Diagramm
vor, wobei die obere horizontale Abbildung für jeden Punkt der natürliche Isomorphismus ist. Diese Abbildungen kann man wiederum als Karten für nehmen und erhält dadurch auf dem Tangentialbündel die Struktur einer komplexen Mannigfaltigkeit der Dimension .
- Orientierbarkeit
Eine komplexe Mannigfaltigkeit
ist orientierbar.
Dies beruht im Wesentlichen darauf, dass zu einer bijektiven - linearen Abbildung auf einem endlichdimensionalen komplexen Vektorraum die zugrunde liegende reell-lineare Abbildung nach Aufgabe 4.7 eine positive Determinante besitzt.
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