Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2023-2024)/Teil I/Vorlesung 15
- Höhere Ableitungen
Die Ableitung einer (in jedem Punkt) differenzierbaren Funktion nennt man häufig auch die erste Ableitung von . Unter der nullten Ableitung versteht man die Funktion selbst. Höhere Ableitungen werden rekursiv definiert.
Es sei ein Intervall und sei
eine Funktion. Die Funktion heißt -mal differenzierbar, wenn sie -mal differenzierbar ist und die -te Ableitung, also , differenzierbar ist. Die Ableitung
nennt man dann die -te Ableitung von .
Die zweite Ableitung schreibt man auch als , die dritte Ableitung als . Wenn eine Funktion -mal differenzierbar ist, so sagt man auch, dass die Ableitungen bis zur -ten Ordnung existieren. Eine Funktion heißt unendlich oft differenzierbar, wenn sie -mal differenzierbar für jedes ist. Die Funktion ist differenzierbar, aber nicht zweifach differenzierbar, siehe Aufgabe 14.1.
Eine differenzierbare Funktion ist nach Korollar 14.6 stetig, allerdings muss die Ableitung keineswegs stetig sein. Daher ist der folgende Begriff nicht überflüssig.
Es sei ein Intervall und
eine Funktion. Man sagt, dass stetig differenzierbar ist, wenn differenzierbar ist und die Ableitung stetig ist.
In Beispiel 19.10 wird eine differenzierbare, aber nicht stetig differenzierbare Funktion beschrieben. Eine Funktion heißt -mal stetig differenzierbar, wenn sie -mal differenzierbar ist und die -te Ableitung stetig ist.
- Extrema von Funktionen
Wir untersuchen jetzt mit Mitteln der Differentialrechnung, wann eine differenzierbare Funktion
wobei ein Intervall ist, (lokale) Extrema besitzt und wie ihr Wachstumsverhalten aussieht.
Wir können annehmen, dass ein lokales Maximum in besitzt. Es gibt also ein mit für alle . Es sei eine Folge mit , die gegen („von unten“) konvergiere. Dann ist und und somit ist der Differenzenquotient
was sich dann nach Lemma 7.12 auf den Limes, also den Differentialquotienten, überträgt. Also ist . Für eine Folge mit gilt andererseits
Daher ist auch und somit ist insgesamt .
Man beachte, dass das Verschwinden der Ableitung nur ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Existenz eines Extremums ist. Das einfachste Beispiel für dieses Phänomen ist die Funktion , , die streng wachsend ist, deren Ableitung aber im Nullpunkt verschwindet. Ein hinreichendes Kriterium wird in Korollar 15.9 weiter unten gegeben, siehe auch Satz 17.4.
- Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung
Wenn konstant ist, so ist die Aussage richtig. Es sei also nicht konstant. Dann gibt es ein mit . Sagen wir, dass größer als dieser Wert ist. Aufgrund von Satz 11.13 gibt es ein , wo die Funktion ihr Maximum annimmt, und dieser Punkt kann kein Randpunkt sein. Für dieses ist dann nach Satz 15.3.
Der vorstehende Satz heißt Satz von Rolle.
Der folgende Satz heißt Mittelwertsatz der Differentialrechnung. Er besagt beispielsweise, dass bei einem differenzierbaren eindimensionalen Bewegungsvorgang die Durchschnittsgeschwindigkeit mindestens einmal als Momentangeschwindigkeit auftritt.
Wir betrachten die Hilfsfunktion
Diese Funktion ist ebenfalls stetig und in differenzierbar. Ferner ist und
Daher erfüllt die Voraussetzungen von Satz 15.4 und somit gibt es ein mit . Aufgrund der Ableitungsregeln gilt also
Wenn nicht konstant ist, so gibt es mit . Dann gibt es aufgrund von Satz 15.5 ein , , mit , ein Widerspruch zur Voraussetzung.
Der folgende Satz heißt Monotoniesatz, er stiftet eine Beziehung zwischen dem Wachstumsverhalten der Funktion und der Positivität ihrer Ableitung.
Es sei ein offenes Intervall und
eine differenzierbare Funktion. Dann gelten folgende Aussagen.
- Die Funktion ist genau dann auf wachsend (bzw. fallend), wenn (bzw. ) für alle ist.
- Wenn für alle ist und nur endlich viele Nullstellen besitzt, so ist streng wachsend.
- Wenn für alle ist und nur endlich viele Nullstellen besitzt, so ist streng fallend.
(1). Es genügt, die Aussagen für wachsende Funktionen zu beweisen. Wenn wachsend ist, und ist, so gilt für den Differenzenquotienten
für jedes mit
.
Diese Abschätzung gilt dann auch für den Grenzwert für , und dieser ist .
Es sei umgekehrt die Ableitung .
Nehmen wir an, dass es zwei Punkte
in mit
gibt. Aufgrund des
Mittelwertsatzes
gibt es dann ein mit
mit
(2). Es sei nun
mit nur endlich vielen Ausnahmen.
Angenommen es wäre
für zwei Punkte
. Da nach dem ersten Teil wachsend ist, ist auf dem Intervall konstant. Somit ist
auf diesem gesamten Intervall, ein Widerspruch dazu, dass nur endlich viele Nullstellen besitzt.
Eine reelle Polynomfunktion
vom Grad besitzt maximal lokale Extrema, und die reellen Zahlen lassen sich in maximal Intervalle unterteilen, auf denen abwechselnd streng wachsend oder streng fallend ist.
Beweis
Es sei ein reelles Intervall,
eine zweimal stetig differenzierbare Funktion und ein innerer Punkt des Intervalls. Es gelte . Dann gelten folgende Aussagen.
- Wenn ist, so besitzt in ein isoliertes lokales Minimum.
- Wenn ist, so besitzt in ein isoliertes lokales Maximum.
Beweis
Eine Verallgemeinerung dieser Aussage werden wir in Satz 17.4 kennenlernen.
- Der zweite Mittelwertsatz und die Regel von l'Hospital
Die folgende Aussage heißt auch zweiter Mittelwertsatz.
Es sei und seien
stetige, auf differenzierbare Funktionen mit
für alle .
Dann ist und es gibt ein mit
Aus dem zweiten Mittelwertsatz erhält man den ersten Mittelwertsatz zurück, wenn man für die Identität nimmt.
Zur Berechnung von Grenzwerten einer Funktion, die als Quotient gegeben ist, ist die folgende Regel von l'Hospital hilfreich.
Es sei ein offenes Intervall und ein Punkt. Es seien
stetige Funktionen, die auf differenzierbar seien mit und mit für . Es sei vorausgesetzt, dass der Grenzwert
existiert.
Dann existiert auch der Grenzwert
und sein Wert ist ebenfalls .
Zur Ermittlung des Grenzwertes benutzen wir das Folgenkriterium. Da im Intervall keine Nullstelle besitzt und ist, besitzt auch nach Satz 15.4 außer keine Nullstelle. Es sei eine Folge in , die gegen konvergiert. Zu jedem gibt es nach Satz 15.10, angewandt auf bzw. , ein (im Innern[1] von ) mit
Die Folge konvergiert ebenfalls gegen , sodass nach Voraussetzung die rechte Seite gegen konvergiert. Daher konvergiert auch die linke Seite gegen , und wegen bedeutet das, dass gegen konvergiert.
Die Polynome
haben beide für eine Nullstelle. Es ist also nicht von vornherein klar, ob der Limes
existiert und welchen Wert er besitzt. Aufgrund der Regel von l'Hospital kann man den Grenzwert über die Ableitungen bestimmen, und das ergibt
- Fußnoten
- ↑ Unter dem Innern eines reellen Intervalls versteht man das Intervall ohne die Intervallgrenzen.
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