Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Teil I/Vorlesung 10
Die Vorlesungen der nächsten Wochen beschäftigen sich mit linearer Algebra. Ihr zentraler Begriff ist der Vektorraum.
- Vektorräume
Wir beginnen mit einem einführenden Beispiel.
An einem Stand auf dem Weihnachtsmarkt gibt es drei verschiedene Glühweintöpfe. Alle drei beinhalten die Zutaten Zimt, Gewürznelken, Rotwein und Zucker, allerdings mit unterschiedlichen Anteilen. Die Zusammensetzung der einzelnen Glühweine ist
Jeder Glühwein wird also repräsentiert durch ein Vierertupel, deren einzelne Einträge für die Anteile an den Zutaten stehen. Die Menge aller (möglichen) Glühweine bilden einen Vektorraum, und die drei konkreten Glühweine sind drei Vektoren in diesem Raum.
Nehmen wir an, dass keiner dieser drei Glühweine genau den gewünschten Geschmack trifft und dass der Wunschglühwein die Zusammensetzung
hat. Gibt es eine Möglichkeit, den Wunschglühwein durch Zusammenschütten der vorgegebenen Glühweine zu erhalten? Gibt es also Zahlen[1] derart, dass
gilt? Hinter dieser einen vektoriellen Gleichung liegen vier einzelne Gleichungen in den „Variablen“ , wobei die Gleichungen sich aus den Zeilen ergeben. Wann gibt es eine solche Lösung, wann keine, wann mehrere? Das sind typische Fragen der linearen Algebra.
Es sei ein Körper und eine kommutative Gruppe. Man nennt einen -Vektorraum, wenn eine Abbildung
erklärt ist, die folgende Axiome erfüllt (dabei seien und beliebig):
- ,
- ,
- ,
- .
Die Verknüpfung in nennt man (Vektor)-Addition und die Operation nennt man Skalarmultiplikation. Die Elemente in einem Vektorraum nennt man Vektoren, und die Elemente heißen Skalare. Das Nullelement wird auch als Nullvektor bezeichnet, und zu heißt das inverse Element das Negative zu und wird mit bezeichnet. Den Körper, der im Vektorraumbegriff vorausgesetzt ist, nennt man auch den Grundkörper. Alle Begriffe der linearen Algebra beziehen sich auf einen solchen Grundkörper, er darf also nie vergessen werden, auch wenn er manchmal nicht explizit aufgeführt wird. Bei spricht man von reellen Vektorräumen und bei von komplexen Vektorräumen. Bei reellen und komplexen Vektorräumen gibt es zusätzliche Strukturen wie Längen, Winkel, Skalarprodukt. Zunächst entwickeln wir aber die algebraische Theorie der Vektorräume über einem beliebigen Körper.
Es sei ein Körper und . Dann ist die Produktmenge
mit der komponentenweisen Addition und der durch
definierten Skalarmultiplikation ein Vektorraum. Man nennt ihn den -dimensionalen Standardraum. Insbesondere ist selbst ein Vektorraum.
Der Nullraum , der aus dem einzigen Element besteht, ist ebenfalls ein Vektorraum. Man kann ihn auch als auffassen.
Der Anschauungsraum (oder die Ebene), wie man ihn sich elementargeometrisch vorstellt, ist kein Vektorraum! Weder gibt es in ihm eine natürliche noch kann man zwei Punkte darin miteinander addieren oder einen Punkt mit einer Zahl multiplizieren. Dies sieht anders aus, wenn man nicht den Anschauungsraum betrachtet, sondern alle möglichen Parallelverschiebungen im Anschauungsraum. Eine solche elementar-geometrische Verschiebung verschiebt jeden Punkt in eine bestimmte, für alle Punkte gleiche Richtung. Eine solche Verschiebungsrichtung kann man sich als einen Pfeil vorstellen. Die Menge der Parallelverschiebungen kann man in natürlicher Weise zu einem Vektorraum über machen. Der Nullvektor ist dann die Nullverschiebung, die also nichts verschiebt, sondern jeden Punkt an seinem Ort lässt. Die Addition von Verschiebungen ist die Hintereinanderausführung der Verschiebungen. Sie wird beschrieben, indem man das Ende des einen Verschiebungspfeils an die Spitze des anderen Verschiebungspfeils anlegt und den Gesamtpfeil betrachtet. Diese Verknüpfung ist kommutativ (Parallelogramm). Die Multiplikation mit einer positiven Zahl ist dann die Streckung oder Stauchung der Verschiebung um den als Skalar gegebenen Faktor, die Multiplikation mit einer negativen Zahl ist dann die Streckung oder Stauchung in die andere Richtung. Insbesondere ist das Negative einer Verschiebung die entgegengesetzte Verschiebung.
Wenn man allerdings im Anschauungsraum einen Punkt als Ursprungspunkt (oder Nullpunkt) auszeichnet, so kann man jeden Punkt mit dem Verbindungspfeil vom Ursprung zu diesem Punkt identifizieren und erhält dann eine Vektorraumstruktur auf dem Anschauungsraum.
Die komplexen Zahlen bilden einen Körper und daher bilden sie einen Vektorraum über sich selbst. Andererseits sind die komplexen Zahlen gleich . Die Multiplikation einer komplexen Zahl mit einer reellen Zahl geschieht komponentenweise, d.h. diese Multiplikation stimmt mit der skalaren Multiplikation auf überein. Daher sind die komplexen Zahlen auch ein reeller Vektorraum. Unter Verwendung einer späteren Terminologie kann man sagen, dass ein eindimensionaler komplexer Vektorraum ist und dass ein zweidimensionaler reeller Vektorraum ist mit der reellen Basis und .
Es sei ein Körper. Wir betrachten die Menge der Folgen in , also
Diese Menge ist mit komponentenweiser Addition, bei der also die Summe von zwei Folgen und durch
erklärt wird, und mit der durch
definierten Skalarmultiplikation ein Vektorraum.
Wir betrachten die Inklusion der rationalen Zahlen in den reellen Zahlen. Mit der reellen Addition und mit der Multiplikation von rationalen Zahlen mit reellen Zahlen ist ein - Vektorraum, wie direkt aus den Körperaxiomen folgt. Dies ist ein ziemlich unübersichtlicher Vektorraum.
Vor dem nächsten Beispiel führen wir Polynome über einem Körper ein.
Ein Polynom definiert eine Polynomfunktion
Es sei die Menge aller Polynome in einer Variablen über dem Körper . Man definiert eine Addition auf , indem man zu zwei Polynomen
, , gleich null setzt. Damit definiert man die Summe komponentenweise, also
Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Dann gelten die folgenden Eigenschaften (dabei sei und ).
- Es ist . [2]
- Es ist .
- Es ist .
- Aus und folgt .
Beweis
- Erzeugendensysteme und Untervektorräume
Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Es sei eine Familie von Vektoren in . Dann heißt der Vektor
eine Linearkombination dieser Vektoren (zum Koeffiziententupel ).
Zwei unterschiedliche Koeffiziententupel können denselben Vektor definieren.
Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Dann heißt eine Familie , , ein Erzeugendensystem von , wenn man jeden Vektor als
mit einer endlichen Teilfamilie und mit darstellen kann.
Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Eine Teilmenge heißt Untervektorraum, wenn die folgenden Eigenschaften gelten.
- .
- Mit ist auch .
- Mit und ist auch .
Auf einem solchen Untervektorraum kann man die Addition und die skalare Multiplikation einschränken. Daher ist ein Untervektorraum selbst ein Vektorraum, siehe Aufgabe 10.3. Die einfachsten Untervektorräume in einem Vektorraum sind der Nullraum und der gesamte Vektorraum .
Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Zu einer Familie , , setzt man
und nennt dies den von der Familie erzeugten oder aufgespannten Untervektorraum.
Der von der leeren Menge erzeugte Unterraum ist der Nullraum.[3] Dieser wird ebenso von der erzeugt. Zu einem einzigen Vektor besteht der aufgespannte Raum aus . Bei ist dies eine Gerade, was wir im Rahmen der Dimensionstheorie noch präzisieren werden. Bei zwei Vektoren und hängt die „Gestalt“ des aufgespannten Raumes davon ab, wie die beiden Vektoren sich zueinander verhalten. Wenn sie beide auf einer Geraden liegen, d.h. wenn gilt , so ist überflüssig und der von den beiden Vektoren erzeugte Unterraum stimmt mit dem von erzeugten Unterraum überein. Wenn dies nicht der Fall ist (und und nicht sind), so erzeugen die beiden Vektoren eine „Ebene“.
Wir fassen einige einfache Eigenschaften für Erzeugendensysteme und Unterräume zusammen.
Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Dann gelten folgende Aussagen.
- Sei
, , eine Familie von
Untervektorräumen. Dann ist auch der Durchschnitt
- Zu einer Familie
, , von Elementen in ist der
erzeugte Unterraum ein Unterraum von . Er stimmt mit dem Durchschnitt
- Die Familie , , ist genau dann ein Erzeugendensystem von , wenn
Beweis
Es sei ein angeordneter Körper und sei
(siehe Beispiel 10.5.). Dann sind die beiden Teilmengen
Untervektorräume von mit . Die erste Aussage folgt aus Beispiel 10.5 (1),(3), für die zweite Aussage siehe Lemma 7.10.
- Lineare Gleichungssysteme und Elimination
Es sei ein Körper und . Dann nennt man
eine (homogene) lineare Gleichung in den Variablen zu den Koeffizienten , . Ein Tupel heißt Lösung der linearen Gleichung, wenn ist.
Wenn ein weiteres Element ist, so heißt
eine inhomogene lineare Gleichung und ein Tupel heißt Lösung der inhomogenen linearen Gleichung, wenn ist.
Es sei ein Körper und für und . Dann nennt man
ein (homogenes) lineares Gleichungssystem in den Variablen . Ein Tupel heißt Lösung des linearen Gleichungssystems, wenn für alle ist.
Wenn beliebig[4] ist, so heißt
ein inhomogenes lineares Gleichungssystem und ein Tupel heißt Lösung des inhomogenen linearen Gleichungssystems, wenn für alle ist.
Ein lineares Gleichungssystem besitzt immer die sogenannte triviale Lösung . Ein inhomogenes Gleichungssystem braucht nicht unbedingt eine Lösung haben. Solche Gleichungssysteme treten immer wieder auf.
Es sei ein Körper und . Im seien Vektoren (oder -Tupel)
gegeben und sei
ein weiterer Vektor. Wir wollen wissen, wann sich als Linearkombination der darstellen lässt. Es geht also um die Frage, ob es Elemente mit der Eigenschaft
gibt. Die Gleichheit von Vektoren bedeutet, dass Übereinstimmung in jeder Komponente vorliegen muss, sodass dies zum linearen Gleichungssystem
führt.
Es sei ein Körper und
ein homogenes lineares Gleichungssystem über .
Dann ist die Menge aller Lösungen des Gleichungssystems ein Untervektorraum des (mit komponentenweiser Addition und Skalarmultiplikation).
Beweis
Man spricht daher auch vom Lösungsraum des Gleichungssystems. Insbesondere addiert man zwei lineare Gleichungen, indem man die zu einer Variablen gehörenden Koeffizienten jeweils miteinander addiert. Die Lösungsmenge eines inhomogenen Gleichungssystems ist kein Vektorraum. Dennoch gibt es auch dafür eine sinnvolle Addition, wobei man wieder die Koeffizienten zu den Variablen, aber auch die inhomogenen Koeffizienten miteinander addieren muss.
Es sei ein Körper und seien zwei (inhomogene) lineare Gleichungssysteme zur gleichen Variablenmenge gegeben. Die Systeme heißen äquivalent, wenn ihre Lösungsmengen übereinstimmen.
Die Äquivalenz von linearen Gleichungssystemen ist eine Äquivalenzrelation. Eine naheliegende Aufgabe ist es, zu einem linearen Gleichungssystem ein möglichst einfaches äquivalentes Gleichungssystem zu finden, und dieses dann zu „lösen“.
Es sei ein Körper und
ein inhomogenes lineares Gleichungssystem über .
Dann führen die folgenden Manipulationen an diesem Gleichungssystem zu einem äquivalenten Gleichungssystem.
- Das Vertauschen von zwei Gleichungen.
- Die Multiplikation einer Gleichung mit einem Skalar .
- Das einfache Weglassen einer Gleichung, die doppelt vorkommt.
- Das Verdoppeln einer Gleichung (im Sinne von eine Gleichung zweimal hinschreiben).
- Das Weglassen oder Hinzufügen einer Nullzeile (einer Nullgleichung).
- Das Ersetzen einer Gleichung durch diejenige Gleichung, die entsteht, wenn man zu eine andere Gleichung des Systems addiert.
Die meisten Aussagen sind direkt klar. (2) ergibt sich einfach daraus, dass wenn
gilt, dass dann auch
für jedes gilt. Bei kann man diesen Übergang durch Multiplikation mit rückgängig machen.
(6). Es sei die Gleichung
und die Gleichung
Wenn ein Tupel die beiden Gleichungen erfüllt, so erfüllt es auch die Gleichung . Und wenn das Tupel die beiden Gleichungen und erfüllt, so auch die Gleichung und .
Es sei ein Körper und ein (inhomogenes) lineares Gleichungssystem über in den Variablen . Es sei eine Variable, die in mindestens einer Gleichung mit einem von verschiedenen Koeffizienten vorkommt.
Dann lässt sich jede von verschiedene[5] Gleichung durch eine Gleichung ersetzen, in der nicht mehr vorkommt, und zwar so, dass das neue Gleichungssystem , das aus und den Gleichungen besteht, äquivalent zum Ausgangssystem ist.
Durch Umnummerieren kann man erreichen. Es sei die Gleichung
(mit ) und die Gleichung
Dann hat die Gleichung
die Gestalt
in der nicht mehr vorkommt. Wegen sind die Gleichungssysteme äquivalent.
Gegeben sei ein (inhomogenes) lineares Gleichungssystem über einem Körper . Dann wendet man auf eine geeignete Variable Lemma 10.22 an und erhält ein äquivalentes Gleichungssystem bestehend aus einer linearen Gleichung , in der vorkommt, und einer Menge von Gleichungen, in denen nicht vorkommt. Das System ist äquivalent zu . Man wendet nun dieses Verfahren auf an (falls zwei von null verschiedene Gleichungen besitzt) und eliminiert dort eine weitere Variable, etc. So erhält man nach und nach Gleichungssysteme mit immer weniger Variablen und der Eigenschaft, dass äquivalent zu ist. Man ist fertig, wenn man nicht mehr eliminieren kann, und dies ist genau dann der Fall, wenn in nur noch eine von null verschiedene Gleichung steht.
Insgesamt erhält man so ein äquivalentes Gleichungssystem in „Stufenform“, das man einfach lösen kann.
- Fußnoten
- ↑ Sinnvoll interpretierbar sind in diesem Beispiel nur positive Zahlen, da man schwerlich aus einem Glühweingemisch die einzelnen verwendeten Glühweinsorten wieder herausziehen kann. In der linearen Algebra spielt sich aber alles über einem Körper ab, sodass wir auch negative Zahlen zulassen.
- ↑ Man mache sich hier und im Folgenden klar, wann die in und wann sie in zu verstehen ist.
- ↑ Dies kann man als Definition nehmen oder aber aus Definition 10.13 ableiten, wenn man die Konvention berücksichtigt, dass die leere Summe gleich ist.
- ↑ Ein solcher Vektor heißt manchmal ein Störvektor des Systems.
- ↑ Mit verschieden ist hier gemeint, dass die beiden Gleichungen einen unterschiedlichen Index im System haben. Es ist also sogar der Fall erlaubt, dass und dieselbe, aber doppelt aufgeführte Gleichung ist.
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