Kurs:Analysis (Osnabrück 2013-2015)/Teil I/Vorlesung 22

Aus Wikiversity

Zu einer konvergenten Potenzreihe

bilden die „Teilpolynome“

polynomiale Approximationen für die Funktion im Punkt . Wir fragen uns nun umgekehrt, inwiefern man aus den höheren Ableitungen einer hinreichend oft differenzierbaren Funktion approximierende Polynome (oder eine Potenzreihe) erhalten kann. Dies ist der Inhalt der Taylor-Entwicklung.



Die Taylor-Formel

Eine konvergente Potenzreihe ist in beliebig oft differenzierbar und die Ableitungen im Punkt lassen sich aus der Potenzreihe ablesen. Es ist ja

und allgemein

Umgekehrt kann man aus den Ableitungen die Koeffizienten der Potenzreihe durch

zurückgewinnen. Dabei ist die rechte Seite unabhängig davon definiert, ob eine Potenzreihe vorliegt, so lange die Funktion nur hinreichend oft differenzierbar ist. Man gewinnt daher über die Ableitungen gute Kandidaten für polynomiale Approximationen, nämlich die Taylor-Polynome.


Definition  

Es sei eine offene Teilmenge,

eine -mal differenzierbare Funktion und . Dann heißt

das Taylor-Polynom vom Grad[1] zu im Entwicklungspunkt .


Beispiel  

Wir möchten für die Funktion

das Taylor-Polynom der Ordnung im Entwicklungspunkt bestimmen. Es ist

Unter Verwendung von

ist somit

Das Taylor-Polynom vom Grad ist daher


Die folgende Taylor-Formel macht eine Aussage über die Güte der Approximation einer Funktion durch ihre Taylorpolynome. Wir beschränken uns auf die reelle Situation. Bei handelt es sich einfach um den Mittelwertsatz.


Satz  

Es sei ein reelles Intervall,

eine -mal differenzierbare Funktion und ein innerer Punkt des Intervalls.

Dann gibt es zu jedem Punkt ein mit

Dabei kann zwischen und gewählt werden.

Beweis  

Sei fixiert. In Anlehnung an die zu beweisende Aussage betrachten wir zu den Ausdruck

den wir als Funktion in auffassen. Es ist und wir wählen so, dass ist, was möglich ist. Die Funktion

ist auf dem Teilintervall (bzw. , falls ist.) differenzierbar (nach ) und besitzt an den beiden Intervallgrenzen den Wert . Nach dem Satz von Rolle gibt es ein mit .

Aufgrund der Produktregel und der Kettenregel ist (Ableitung nach )

Daher heben sich in der Ableitung von die meisten Terme weg und es ergibt sich

Aus der Gleichung

folgt . Wenn wir dies und in die Anfangsgleichung einsetzen und ausnutzen, so ergibt sich die Behauptung.


Eine gute Approximation für die Funktion erhält man daraus, wenn man den Betrag der -ten Ableitung abschätzen kann.


Korollar  

Es sei ein beschränktes abgeschlossenes Intervall,

eine -mal stetig differenzierbare Funktion, ein innerer Punkt und .

Dann gilt zwischen und dem -ten Taylor-Polynom die Fehlerabschätzung

Beweis  

Die Zahl existiert aufgrund von Satz 13.9, da nach Voraussetzung die -te Ableitung stetig auf dem kompakten Intervall ist. Die Aussage folgt somit direkt aus Satz 22.3.




Anwendung auf Extrema



Satz  

Es sei ein reelles Intervall,

eine -mal stetig differenzierbare Funktion, und ein innerer Punkt des Intervalls. Es gelte

Dann gelten folgende Aussagen.
  1. Wenn gerade ist, so besitzt in kein lokales Extremum.
  2. Es sei ungerade. Bei besitzt in ein isoliertes lokales Minimum.
  3. Es sei ungerade. Bei besitzt in ein isoliertes lokales Maximum.

Beweis  

Unter den Voraussetzungen wird die Taylor-Formel zu

mit (abhängig von ) zwischen und . Je nachdem, ob oder ist, gilt auch (wegen der vorausgesetzten Stetigkeit der -ten Ableitung) bzw. für für ein geeignetes . Für diese ist auch , so dass das Vorzeichen von vom Vorzeichen von abhängt.
Bei gerade ist ungerade und daher wechselt das Vorzeichen bei (bei ist das Vorzeichen negativ und bei ist es positiv). Da das Vorzeichen von sich nicht ändert, ändert sich das Vorzeichen von . Das bedeutet, dass kein Extremum vorliegen kann.
Es sei nun ungerade. Dann ist gerade, so dass für alle in der Umgebung ist. Das bedeutet in der Umgebung bei , dass ist und in ein isoliertes Minimum vorliegt, und bei , dass ist und in ein isoliertes Maximum vorliegt.


Für Polynome und allgemeiner für Funktionen, die durch eine Potenzreihe gegeben sind, lässt sich also stets allein unter Bezug auf die Ableitungen entscheiden, ob in einem Punkt ein lokales Extremum vorliegt. Bei Potenzreihen beruht dies auf dem Identitätssatz.



Die Taylor-Reihe
Die reelle Sinusfunktion zusammen mit verschiedenen approximierenden Taylorpolynomen (von ungeradem Grad).

Definition  

Es sei eine offene Teilmenge,

eine -oft differenzierbare Funktion und . Dann heißt

die Taylor-Reihe zu im Entwicklungspunkt .



Satz  

Es sei eine Potenzreihe mit einem positiven Konvergenzradius und

die dadurch definierte Funktion.

Dann ist unendlich oft differenzierbar und die Taylor-Reihe im Entwicklungspunkt stimmt mit der vorgegebenen Potenzreihe überein.

Beweis  

Die unendliche Differenzierbarkeit folgt direkt aus Satz 20.9 durch Induktion. Daher existiert die Taylor-Reihe insbesondere im Punkt . Es ist also lediglich noch zu zeigen, dass die -te Ableitung von in den Wert besitzt. Dies folgt aber ebenfalls aus Satz 20.9.



Korollar  

Es sei

eine konvergente Potenzreihe mit dem Konvergenzradius und sei .

Dann erhält man die umentwickelte Reihe im Entwicklungspunkt als Taylor-Reihe von in .

Insbesondere konvergiert die Taylor-Reihe in mit einem Konvergenzradius .

Beweis  

Nach dem Entwicklungssatz wird die Funktion in einer offenen Umgebung von durch eine Potenzreihe beschrieben. Somit folgt die Aussage aus Satz 22.7.


Das folgende Beispiel zeigt, dass die Taylor-Reihe existieren und auch konvergieren kann, ohne dass dadurch die vorgegebene Funktion dargestellt wird (sie kann auch existieren ohne zu konvergieren).


Beispiel  

Wir betrachten die Funktion

mit

Wir behaupten, dass diese Funktion unendlich oft differenzierbar ist, was nur im Nullpunkt nicht offensichtlich ist. Man zeigt zunächst durch Induktion, dass sämtliche Ableitungen von (und der rechtsseitige Differenzenquotient im Nullpunkt) die Form mit gewissen Polynomen besitzen und dass davon der Limes für stets ist (siehe Aufgabe 22.11 und Aufgabe 22.12.). Daher ist der (rechtsseitige) Limes für alle Ableitungen gleich und existiert. Alle Ableitungen am Nullpunkt haben also den Wert und daher ist die Taylor-Reihe im Nullpunkt die Nullreihe. Die Funktion ist aber in keiner Umgebung des Nullpunktes die Nullfunktion, da ist.




Fußnoten
  1. Oder genauer das Taylor-Polynom vom Grad . Wenn die -te Ableitung in null ist, so besitzt das -te Taylor-Polynom einen Grad kleiner als . Man spricht häufig auch von der Ordnung des Taylor-Polynoms.


<< | Kurs:Analysis (Osnabrück 2013-2015)/Teil I | >>

PDF-Version dieser Vorlesung

Arbeitsblatt zur Vorlesung (PDF)