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Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2019-2020)/Teil II/Vorlesung 40

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Die Entscheidung fiel aber ohne längere Diskussion auf Vorli, weil sie zugewandt, feinfühlig, verständnisvoll, lieb, zuvorkommend, aufmunternd, hilfsbereit, aufmerksam und wuschelig ist.

Wir haben schon gewöhnliche Differentialgleichungen samt einiger Lösungsverfahren zu Beginn der Vorlesung besprochen. Dort ging es um die Bewegungen auf einer Geraden, die durch ein von der Zeit und dem Ort (der Lage auf der Geraden) abhängiges Vektorfeld bestimmt wurden. Eine physikalische Bewegung spielt sich aber häufig höherdimensional (im oder im ) ab, so dass wir jetzt gewöhnliche Differentialgleichungen allgemein besprechen. Die Zeitkomponente wird sich nach wie vor in einem reellen Intervall bewegen, die Ortskomponente wird ein Element in einem beliebigen endlichdimensionalen reellen Vektorraum sein. Diesen statten wir mit einem Skalarprodukt aus, sodass wir eine Norm, eine Metrik, offene Mengen, stetige Abbildungen, etc. zur Verfügung haben.



Gewöhnliche Differentialgleichungen

Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und

ein Vektorfeld auf . Dann nennt man

die gewöhnliche Differentialgleichung (oder gewöhnliches Differentialgleichungssystem) zum Vektorfeld .

(Zeitabhängige) Vektorfelder und gewöhnliche Differentialgleichungssysteme sind im Wesentlichen äquivalente Objekte. Man spricht auch von einem dynamischen System. Von Differentialgleichungen spricht man insbesondere dann, wenn man sich für die Lösungen im Sinne der folgenden Definition interessiert.


Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und

ein Vektorfeld auf . Zur gewöhnlichen Differentialgleichung

heißt eine Abbildung

auf einem offenen (Teil)Intervall[1] eine Lösung der Differentialgleichung, wenn folgende Eigenschaften erfüllt sind.

  1. Es ist für alle .
  2. Die Abbildung ist differenzierbar.
  3. Es ist für alle .

Eine Lösung ist also eine differenzierbare Kurve, d.h. eine (orts-)vektorwertige Abbildung

Wenn ist, so wird eine solche Abbildung durch ihre Komponenten

beschrieben. Ebenso wird das Vektorfeld durch , von und abhängige Funktionen beschrieben. Die Differentialgleichung lautet dann ausgeschrieben

Daher spricht man auch von einem Differentialgleichungssystem.

Häufig soll eine Kurve nicht nur eine Differentialgleichung erfüllen, sondern sich zusätzlich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort befinden. Dies führt zum Begriff des Anfangswertproblems.


Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und

ein Vektorfeld auf . Es sei gegeben. Dann nennt man

das Anfangswertproblem zur gewöhnlichen Differentialgleichung mit der Anfangsbedingung .


Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und

ein Vektorfeld auf . Es sei vorgegeben. Dann nennt man eine Abbildung

auf einem Intervall mit eine Lösung des Anfangswertproblems

wenn eine Lösung der Differentialgleichung ist und wenn zusätzlich

gilt.

Eine zu einem Vektorfeld, einer gewöhnlichen Differentialgleichung und einem Anfangswertproblem passende Vorstellung ist das Windmodell. Das Vektorfeld

beschreibt zu einem jeden Zeitpunkt und einem Ortspunkt die in diesem Punkt herrschende Windrichtung (oder Windgeschwindigkeit). Die Lösung einer Differentialgleichung ist die Bewegung eines Teilchens, das (beschleunigungsfrei und verzögerungsfrei) vom Wind getragen wird, dessen Momentangeschwindigkeit also zu jedem Zeitpunkt gleich der Windgeschwindigkeit an dem Ort ist, an dem sich das Teilchen gerade befindet. Die Lösung eines Anfangswertproblems beschreibt die Bewegung, wenn das Teilchen an einem bestimmten Punkt losgelassen wird.


Die Vorstellung, dass eine Differentialgleichung die Bewegung in einem Kraftfeld[2] beschreibt, kann irreführend sein. Ein Kraftfeld ist ein Beschleunigungsfeld und kein Geschwindigkeitsfeld. Allerdings führt ein Kraftfeld zu einer Differentialgleichung zweiter Ordnung, die in eine Differentialgleichung erster Ordnung (unter Hinzunahme neuer Variablen) übersetzt werden kann. Das werden wir in der nächsten Vorlesung durchführen.




Erste Beispiele

Wir betrachten ein konstantes Vektorfeld auf dem , also eine Abbildung

wobei ein fixierter Vektor ist. Im „Windmodell“ bedeutet dies, dass überall und zu jeder Zeit eine konstante Windgeschwindigkeit herrscht. Die Bewegung eines (durch den Wind getragenen) Teilchens muss sich also auf der durch einen Startpunkt und den Richtungsvektor gegebenen Geraden vollziehen. In der Tat besitzt das Anfangswertproblem

die eindeutige[3] (affin-lineare) Lösung

wie man durch Ableiten bestätigt.



Wir betrachten ein stetiges ortsunabhängiges Vektorfeld auf dem , d.h. es sei eine stetige Abbildung

auf einem reellen Intervall gegeben, die wir als Vektorfeld

auffassen. Im „Windmodell“ bedeutet dies, dass zu einem festen Zeitpunkt überall die gleiche Windgeschwindigkeit herrscht, diese sich aber mit der Zeit ändert. Die Bewegungskurven der (durch den Wind getragenen) Teilchen müssen also parallel zueinander sein, also durch eine Ortsverschiebung auseinander hervorgehen. Der Differenzvektor zwischen den Positionen von zwei Teilchen bleibt während des Bewegungsvorgangs erhalten. Die Lösungskurven zu einem Anfangswertproblem

lassen sich einfach berechnen: Die eindeutige Lösung ist die Integralkurve

wobei die die Komponentenfunktionen von sind.



Es seien reellwertige Funktionen in zwei Variablen gegeben. Diese kann man zu einem Vektorfeld

zusammenfassen. Dabei hängt die -te Koordinatenfunktion des Vektorfeldes nur von und der -ten Ortskoordinaten ab. Eine Lösungskurve muss die Bedingungen

(für ) erfüllen. Diese Bedingungen sind unabhängig voneinander, d.h. man kann die Komponentenfunktionen getrennt mit einem eindimensionalen Ansatz bestimmen. Daher spricht man von einem entkoppelten Differentialgleichungssystem.

Manchmal ist ein Differentialgleichungssystem in den ursprünglich gegebenen Koordinaten nicht entkoppelt, lässt sich aber durch einen Koordinatenwechsel entkoppeln und dann lösen. Dies ist vor allem für lineare Differentialgleichungssysteme mit konstanten Koeffizienten wichtig, die mit Mitteln der linearen Algebra entkoppelt werden können.



Wir betrachten das (zeitunabhängige) Vektorfeld

Hier steht also der Richtungsvektor stets senkrecht auf dem Ortsvektor , und ihre Normen stimmen überein. Man erwartet kreisförmige Bewegungen. In der Tat ist zur Anfangsbedingung die Kurve

die eindeutige Lösung.


Wir betrachten Differentialgleichungen zu Vektorfeldern, die zwar nicht wie in Beispiel 40.5 konstant sind, aber wo die Richtung konstant ist, wo also die Richtungsvektoren stets skalare Vielfache eines festen Vektors sind.


Es sei eine offene Teilmenge in einem endlichdimensionalen reellen Vektorraum , ein Intervall und es sei ein fixierter Vektor. Es sei

eine Funktion. Dann heißt das Vektorfeld

ein Vektorfeld mit konstanter Richtung.

Man erwartet direkt, dass die Lösungskurven zu einem solchen Vektorfeld sich auf einer durch den Richtungsvektor festgelegten Geraden bewegen.


Es sei eine offene Teilmenge, ein Intervall und es sei ein fixierter Vektor. Es sei

eine Funktion mit dem zugehörigen Vektorfeld mit konstanter Richtung

Dann ist die Lösung des Anfangswertproblemes

mit

von der Form

wobei

eine Lösung des eindimensionalen Anfangswertproblems

mit

ist.

Es sei

mit eine Lösung des eindimensionalen Anfangswertproblems

mit

und sei

Dann ist nach Lemma 37.8  (2)

Ferner ist



Wir betrachten das Anfangswertproblem

mit

und dem Anfangsvektor zum Zeitpunkt . Gemäß Lemma 40.10 müssen wir nach einer Lösung des eindimensionalen Anfangswertproblems

mit suchen. Dies ist eine inhomogene lineare Differentialgleichung, die Lösung der zugehörigen homogenen Differentialgleichung ist und die Lösungen sind

Um das Anfangswertproblem zu lösen muss man nehmen. Deshalb ist

die Lösung des Anfangwertproblems.



Es sei eine offene Teilmenge in einem endlichdimensionalen reellen Vektorraum , ein Intervall und es sei

eine Funktion. Dann heißt das Vektorfeld

ein Zentralfeld.

Bei einem Zentralfeld sind also der Ortsvektor und der Richtungsvektor linear abhängig, d.h. der Richtungsvektor weist in Richtung des Ortsvektors. Daher findet die durch ein Zentralfeld definierte Bewegung allein auf der durch einen Ortspunkt und den Nullpunkt (dem Zentrum) festgelegten Geraden statt. Es handelt sich also im Grunde um einen eindimensional festgelegten Bewegungsvorgang, was auch im folgenden Lemma zum Ausdruck kommt.


Es sei eine offene Teilmenge in einem endlichdimensionalen reellen Vektorraum . Es sei

ein stetiges Zentralfeld zur stetigen Funktion

Es sei und es sei

eine Lösung der eindimensionalen Differentialgleichung

Dann ist

eine Lösung des Anfangswertproblems

Es ist

und

sodass eine Lösung des Anfangswertproblems vorliegt.



Wir betrachten das Zentralfeld zum zeitunabhängigen identischen Vektorfeld

die beschreibende Hilfsfunktion ist also durch

gegeben. Es sei und vorgegeben. Nach Lemma 40.13 müssen wir die eindimensionale gewöhnliche Differentialgleichung betrachten, die gesuchte Lösung ist

Daher ist

die Lösung des Anfangswertproblems zum Zentralfeld.



Wir betrachten das Zentralfeld zur Funktion

also das Vektorfeld

und die Anfangsbedingung . Um dieses Anfangswertproblem zu lösen, müssen wir gemäß Lemma 40.13 die eindimensionale gewöhnliche Differentialgleichung

mit der Anfangsbedingung lösen. Dies ist eine Differentialgleichung mit getrennten Variablen, nach Korollar 33.6 ist

die Lösung mit . Daher ist

die Lösung des Anfangswertproblems zum Zentralfeld.




Fußnoten
  1. Rein formal gesehen ist hier auch das leere Intervall zugelassen, wobei diese „leere Lösung“ natürlich uninteressant ist. Bei einem Anfangswertproblem sichert bereits die Anfangsbedingung, dass die Lösung nicht leer ist.
  2. Die physikalische Interpretation eines Vektorfeldes als Kraftfeld ist hingegen bei Wegintegralen (nämlich als Arbeitsintegral) richtig.
  3. Ob die Lösung einer Differentialgleichung (existiert und) eindeutig ist, ist ein wichtiges Problem. Der wichtigste Satz zu dieser Fragestellung ist der Satz von Picard-Lindelöf, den wir später besprechen werden. In vielen der hier besprochenen Beispiele ist die Eindeutigkeit der Lösung direkt klar oder folgt aus den Eindeutigkeitsaussagen aus den Vorlesungen 31 bis 33.


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PDF-Version dieser Vorlesung

Arbeitsblatt zur Vorlesung (PDF)