Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Teil III/Vorlesung 89/kontrolle
Der Satz von Stokes gehört zu den wichtigsten Sätzen der Mathematik. Er stiftet eine direkte Beziehung zwischen dem Integral einer Differentialform über dem Rand einer berandeten Mannigfaltigkeit und dem Integral der äußeren Ableitung dieser Form über der gesamten Mannigfaltigkeit. Damit handelt es sich um eine weitgehende Verallgemeinerung des Hauptsatzes der Infinitesimalrechnung, nach dem das bestimmte Integral einer auf einem Intervall definierten Funktion mittels der Stammfunktion allein durch die Werte am Intervallrand ausgedrückt werden kann.
- Der Satz von Stokes-Quaderversion
Bevor wir den Satz von Stokes allgemein formulieren und beweisen, geben wir die Quaderversion davon, bei der der Definitionsbereich der Differentialform ein Quader ist, dessen Rand aus seinen Seiten besteht. Damit dieses geometrische Objekt eine Mannigfaltigkeit mit Rand ist, müssen wir die „Kanten“ herausnehmen. Allerdings sind die Kanten auf den Seiten jeweils Nullmengen (und ebenso die Seiten auf dem Gesamtquader), so dass beim Integrieren diese Teilmengen ignoriert werden können.
Es sei ein achsenparalleler -dimensionaler Quader (mit Seiten aber ohne Kanten)[1] mit dem Rand und eine auf definierte stetig-differenzierbare - Differentialform.
Dann ist
Da beide Seiten dieser Gleichung linear in sind, können wir annehmen, dass die Gestalt
mit einer in einer offenen Umgebung von definierten stetig differenzierbaren Funktion besitzt. Die Integrale sind links und rechts Lebesgue-Integrale zu stetigen Funktionen auf Teilmengen des bzw. . Daher können wir auf beiden Seiten zum topologischen Abschluss übergehen, da dadurch die in Frage stehenden Integrationsbereiche nur um eine Nullmenge verändert werden, sodass dies die Integrale nicht ändert.
Wir schreiben den abgeschlossenen Quader als
Wir wenden Korollar 82.10 auf jede Seite ausgenommen und an und erhalten darauf
da auf diesen Seiten jeweils eine der Variablen konstant ist. Aufgrund des Satzes von Fubini und des Hauptsatzes der Infinitesimalrechnung (angewendet auf jedes fixierte ) gilt
- Der Satz von Stokes
Es sei eine - dimensionale orientierte differenzierbare Mannigfaltigkeit mit Rand und mit abzählbarer Basis der Topologie, und es sei eine stetig differenzierbare - Differentialform mit kompaktem Träger[2] auf .
Dann ist
Es sei , , eine offene Überdeckung von mit orientierten Karten und es sei , , eine dieser Überdeckung untergeordnete stetig differenzierbare Partition der Eins, die nach Satz 88.10 existiert. Zu jedem gibt es eine offene Umgebung derart, dass bis auf endlich viele Ausnahmen ist. Es sei der Träger von . Die Überdeckung besitzt wegen der vorausgesetzten Kompaktheit eine endliche Teilüberdeckung, sagen wir
Daher sind überhaupt nur endlich viele der auf von verschieden. Wir setzen ; diese Differentialformen sind ebenfalls stetig differenzierbar. Der Träger von ist eine in abgeschlossene Teilmenge, die in liegt, daher liegt der Träger von in und ist selbst kompakt nach Aufgabe 81.14. Es gilt
wobei nur endlich viele dieser Differentialformen von verschieden sind, da für alle ist und
für alle bis auf endlich viele Ausnahmen. Wegen der
Additivität des Integrals von Differentialformen
und der
Additivität der äußeren Ableitung
kann man die Aussage für die einzelnen getrennt beweisen. Wir können also annehmen, dass eine stetig differenzierbare -Differentialform gegeben ist, die kompakten Träger besitzt, der ganz in einer Kartenumgebung liegt.
Es liegt ein
Diffeomorphismus
mit
offen vor, der zugleich einen Diffeomorphismus zwischen den Rändern
und
induziert. Dabei gilt
und
nach
Lemma 86.2 (5). Wir können also von einer auf
definierten stetig differenzierbaren Differentialform mit kompaktem Träger ausgehen, die wir auf ganz außerhalb des Trägers als Nullform fortsetzen können.
Wegen der Kompaktheit des Trägers gibt es einen hinreichend großen Quader
,
dessen eine Seite auf liegt und der den Träger von nur in trifft. Auf allen anderen Seiten von ist
(und damit auch )
die Nullform. Daher gilt einerseits
und andererseits
Somit folgt die Aussage
aus der Quaderversion des Satzes von Stokes.
Es sei eine - dimensionale orientierte differenzierbare Mannigfaltigkeit (ohne Rand) mit abzählbarer Basis der Topologie und es sei eine stetig differenzierbare - Differentialform mit kompaktem Träger auf .
Dann ist
Dies folgt wegen unmittelbar aus Satz 89.2.
Es sei eine - dimensionale orientierte differenzierbare Mannigfaltigkeit mit Rand und mit abzählbarer Basis der Topologie, und es sei eine stetig differenzierbare - Differentialform mit kompaktem Träger auf , die auf dem Rand konstant gleich ist.
Dann ist
Dies folgt unmittelbar aus Satz 89.2.
Wichtig bei der vorstehenden Aussage ist, dass auf dem Rand ist; es genügt nicht, dass die äußere Ableitung auf dem Rand ist, wie schon die eindimensionale Situation zeigt.
Es gibt viele Möglichkeiten, die Volumenform des als äußere Ableitung einer -Form zu realisieren, beispielsweise mit . Damit kann man die Berechnung des Volumens eines berandeten Körpers auf die Berechung eines Integrals über den Rand zurückführen. Im ebenen Fall nennt man diese Aussage auch den Satz von Green.
Es sei eine kompakte Mannigfaltigkeit mit Rand[3] , und es seien
stetig differenzierbare Funktionen.
Dann ist
Dies folgt aus Satz 89.2, angewendet auf die stetig differenzierbare - Form .
Dies folgt wegen aus Satz 89.5 angewendet auf bzw. .
Den Satz von Green kann man auch für kompakte Gebiete anwenden, deren (topologischer) Rand zusammenhängend und aus endlich vielen glatten Kurven zusammengesetzt ist, die in den Übergängen nicht notwendigerweise glatt sind (beispielsweise ein Dreieck). Das Randintegral ist dann die Summe der Wegintegrale über die glatten Kurvenstücke. Diese etwas allgemeinere Situation kann man auf Satz 89.5 zurückführen, indem man entweder die Übergangsstellen glättet, um einen glatten Rand zu erhalten, wobei man die Abweichungen in den Integralen beliebig klein machen kann, oder die Differentialform in kleinen Umgebungen der Übergangsstellen zu abglättet.
Ein Spezielfall des Satzes von Stokes ist der sogenannte Divergenzsatz oder Satz von Gauß. Er besagt für eine kompakte dreidimensionale Mannigfaltigkeit mit Rand ( eine offene Teilmenge) und eine -Differentialform auf die Gleichheit
Dieser Satz bezieht sich auf die physikalische Situation einer Strömung. Die Form beschreibt für einen Punkt und ein infinitesimales Parallelogramm an diesem Punkt, wie viel Flüssigkeit pro Zeiteinheit durch dieses Stück durchfließt. Bei der äquivalenten Beschreibung dieser Situation mit einem Vektorfeld beschreibt die Flussrichtung zusammen mit ihrer Stärke. Die Ableitung ist eine Volumenform, die sogenannte Divergenz. Sie beschreibt für einen Punkt den infinitesimalen Zuwachs an Flussmaterial (Quelle oder Senke) an diesem Punkt. Dabei ist die Bedingung häufig erfüllt und bedeutet, dass es für die Flüssigkeit in keinen Materialgewinn gibt. Der Satz von Gauß besagt dann, dass die Gesamtdurchströmung durch den Rand (wobei die Orientierung festlegt, welche Strömung als nach draußen oder als nach innen zu betrachten ist) gleich ist. Was also irgendwo in hineinfließt, fließt irgendwo sonst wieder heraus.
- Der Brouwersche Fixpunktsatz
Es sei eine kompakte orientierte differenzierbare Mannigfaltigkeit mit Rand und mit abzählbarer Basis der Topologie.
Dann gibt es keine stetig differenzierbare Abbildung
deren Einschränkung auf die Identität ist.
Der Rand ist nach Satz 87.8 eine orientierte differenzierbare Mannigfaltigkeit (ohne Rand). Daher gibt es nach Satz 88.11 eine stetig differenzierbare positive Volumenform auf . Es ist . Die äußere Ableitung der Volumenform ist . Nehmen wir an, dass es eine stetig differenzierbare Abbildung
mit gebe. Dann ist die zurückgezogene Form eine - Differentialform auf , deren Einschränkung auf den Rand mit übereinstimmt. Daher gilt unter Verwendung von Satz 89.2 und Satz 86.4 (5)
Dies ist ein Widerspruch.
Man formuliert diese Aussage auch so, dass man sagt, dass es keine (stetig differenzierbare) Retraktion auf den Rand gibt.
Der folgende Satz heißt Brouwerscher Fixpunktsatz.
Es sei
eine stetig differenzierbare Abbildung der abgeschlossenen Kugel im in sich.
Dann besitzt einen Fixpunkt.
Zur Notationsvereinfachung sei . Nehmen wir an, dass es eine fixpunktfreie stetig differenzierbare Abbildung geben würde. Dann ist stets
sodass die beiden Punkte eine Gerade definieren. Die Idee ist, mittels dieser Geraden einen (der beiden) Durchstoßungspunkt mit der Sphäre als Bildpunkt einer Retraktion auf den Rand zu nehmen. Mit der Hilfsfunktion
definieren wir eine Abbildung
durch
Dabei ist der Ausdruck unter der Wurzel positiv. Dies ist bei klar und bei liegt ein Punkt auf der Sphäre vor, dessen Verbindungsgerade mit dem Kugelpunkt nicht senkrecht zu ist (der affine Tangentialraum zu einem Punkt der Sphäre trifft eine Kugel nur in einem Punkt), sodass
ist. Da die Quadratwurzel und der Betrag außerhalb des Nullpunktes stetig differenzierbar sind, handelt es sich bei und bei um stetig differenzierbare Abbildungen. Die Abbildung bildet nach Aufgabe 89.21 die Kugel auf die Sphäre ab und ihre Einschränkung auf die Sphäre ist die Identität. Damit liegt eine stetig differenzierbare Retraktion der abgeschlossenen Vollkugel auf ihren Rand vor, was nach Satz 89.9 nicht sein kann.
- Fußnoten
- ↑ Diese Voraussetzungen sichern, dass eine Mannigfaltigkeit mit Rand vorliegt, und zwar ist der Rand die disjunkte Vereinigung der offenen Seiten. Im Beweis werden wir aber auch den abgeschlossenen Quader verwenden.
- ↑ Unter dem Träger einer Differentialform versteht man den topologischen Abschluss der Punkte, auf denen die Form ist.
- ↑ Die umgebende reelle Ebene spielt nur insofern eine Rolle, dass durch sie Koordinaten und Differentialformen auf festgelegt werden.