Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Teil III/Vorlesung 90/kontrolle

Aus Wikiversity

Der Satz von Stokes gehört zu den wichtigsten Sätzen der Mathematik. Er stiftet eine direkte Beziehung zwischen dem Integral einer Differentialform über dem Rand einer berandeten Mannigfaltigkeit und dem Integral der äußeren Ableitung dieser Form über der gesamten Mannigfaltigkeit. Damit handelt es sich um eine weitgehende Verallgemeinerung des Hauptsatzes der Infinitesimalrechnung, nach dem das bestimmte Integral einer auf einem Intervall definierten Funktion mittels der Stammfunktion allein durch die Werte am Intervallrand ausgedrückt werden kann.



Der Satz von Stokes-Quaderversion

Bevor wir den Satz von Stokes allgemein formulieren und beweisen, geben wir die Quaderversion davon, bei der der Definitionsbereich der Differentialform ein Quader ist, dessen Rand aus seinen Seiten besteht. Damit dieses geometrische Objekt eine Mannigfaltigkeit mit Rand ist, müssen wir die „Kanten“ herausnehmen. Allerdings sind die Kanten auf den Seiten jeweils Nullmengen (und ebenso die Seiten auf dem Gesamtquader), so dass beim Integrieren diese Teilmengen ignoriert werden können.



Satz  Referenznummer erstellen

Es sei ein achsenparalleler -dimensionaler Quader (mit Seiten aber ohne Kanten)[1] mit dem Rand und eine auf definierte stetig-differenzierbare - Differentialform.

Dann ist

Beweis  

Da beide Seiten dieser Gleichung linear in sind, können wir annehmen, dass die Gestalt

mit einer in einer offenen Umgebung von definierten stetig differenzierbaren Funktion besitzt. Die Integrale sind links und rechts Lebesgue-Integrale zu stetigen Funktionen auf Teilmengen des bzw. . Daher können wir auf beiden Seiten zum topologischen Abschluss übergehen, da dadurch die in Frage stehenden Integrationsbereiche nur um eine Nullmenge verändert werden, so dass dies die Integrale nicht ändert.

Wir schreiben den abgeschlossenen Quader als

Wir wenden Korollar 83.10 auf jede Seite ausgenommen und an und erhalten darauf

da auf diesen Seiten jeweils eine der Variablen konstant ist. Aufgrund des Satzes von Fubini und des Hauptsatzes der Infinitesimalrechnung (angewendet auf jedes fixierte ) gilt




Der Satz von Stokes



Satz  Satz 90.2 ändern

Es sei eine - dimensionale orientierte differenzierbare Mannigfaltigkeit mit Rand und mit abzählbarer Basis der Topologie, und es sei eine stetig differenzierbare - Differentialform mit kompaktem Träger[2] auf .

Dann ist

Beweis  

Es sei , , eine offene Überdeckung von mit orientierten Karten und es sei , , eine dieser Überdeckung untergeordnete stetig differenzierbare Partition der Eins, die nach Satz 89.8 existiert. Zu jedem gibt es eine offene Umgebung derart, dass bis auf endlich viele Ausnahmen ist. Es sei der Träger von . Die Überdeckung besitzt wegen der vorausgesetzten Kompaktheit eine endliche Teilüberdeckung, sagen wir

Daher sind überhaupt nur endlich viele der auf von verschieden. Wir setzen ; diese Differentialformen sind ebenfalls stetig differenzierbar. Der Träger von ist eine in abgeschlossene Teilmenge, die in liegt, daher liegt der Träger von in und ist selbst kompakt nach Aufgabe 82.8. Es gilt

wobei nur endlich viele dieser Differentialformen von verschieden sind, da für alle ist und

für alle bis auf endlich viele Ausnahmen. Wegen der Additivität des Integrals von Differentialformen und der Additivität der äußeren Ableitung kann man die Aussage für die einzelnen getrennt beweisen. Wir können also annehmen, dass eine stetig differenzierbare -Differentialform gegeben ist, die kompakten Träger besitzt, der ganz in einer Kartenumgebung liegt.
Es liegt ein Diffeomorphismus mit offen vor, der zugleich einen Diffeomorphismus zwischen den Rändern und induziert. Dabei gilt

und

nach Lemma 87.2  (5). Wir können also von einer auf definierten stetig differenzierbaren Differentialform mit kompaktem Träger ausgehen, die wir auf ganz außerhalb des Trägers als Nullform fortsetzen können.
Wegen der Kompaktheit des Trägers gibt es einen hinreichend großen Quader , dessen eine Seite auf liegt und der den Träger von nur in trifft. Auf allen anderen Seiten von ist (und damit auch ) die Nullform. Daher gilt einerseits

und andererseits

Somit folgt die Aussage aus der Quaderversion des Satzes von Stokes.



Korollar  Referenznummer erstellen

Es sei eine - dimensionale orientierte differenzierbare Mannigfaltigkeit (ohne Rand) mit abzählbarer Basis der Topologie und es sei eine stetig differenzierbare - Differentialform mit kompaktem Träger auf .

Dann ist

Beweis  

Dies folgt wegen unmittelbar aus Satz 90.2.



Korollar  Referenznummer erstellen

Es sei eine - dimensionale orientierte differenzierbare Mannigfaltigkeit mit Rand und mit abzählbarer Basis der Topologie, und es sei eine stetig differenzierbare - Differentialform mit kompaktem Träger auf , die auf dem Rand konstant gleich ist.

Dann ist

Beweis  

Dies folgt unmittelbar aus Satz 90.2.

Wichtig bei der vorstehenden Aussage ist, dass auf dem Rand ist; es genügt nicht, dass die äußere Ableitung auf dem Rand ist, wie schon die eindimensionale Situation zeigt.

Es gibt viele Möglichkeiten, die Volumenform des als äußere Ableitung einer -Form zu realisieren, bspw. mit . Damit kann man die Berechnung des Volumens eines berandeten Körpers auf die Berechung eines Integrals über den Rand zurückführen. Im ebenen Fall nennt man diese Aussage auch den Satz von Green.



Satz  Satz 90.5 ändern

Es sei eine kompakte Mannigfaltigkeit mit Rand[3] , und es seien

stetig differenzierbare Funktionen.

Dann ist

Beweis  

Dies folgt aus Satz 90.2, angewendet auf die stetig differenzierbare - Form .



Korollar  Referenznummer erstellen

Es sei eine kompakte Mannigfaltigkeit mit Rand .

Dann ist der Flächeninhalt von gleich

Beweis  

Dies folgt wegen aus Satz 90.5 angewendet auf bzw. .




Der Brouwersche Fixpunktsatz



Satz  Satz 90.7 ändern

Es sei eine kompakte orientierte differenzierbare Mannigfaltigkeit mit Rand und mit abzählbarer Basis der Topologie.

Dann gibt es keine stetig differenzierbare Abbildung

deren Einschränkung auf die Identität ist.

Beweis  

Der Rand ist nach Satz 88.8 eine orientierte differenzierbare Mannigfaltigkeit (ohne Rand). Daher gibt es nach Satz 89.8 eine stetig differenzierbare positive Volumenform auf . Es ist . Die äußere Ableitung der Volumenform ist .  Nehmen wir an, dass es eine stetig differenzierbare Abbildung

mit gebe. Dann ist die zurückgezogene Form eine - Differentialform auf , deren Einschränkung auf den Rand mit übereinstimmt. Daher gilt unter Verwendung von Satz 90.2 und Satz 87.4  (5)

Dies ist ein Widerspruch.

Man formuliert diese Aussage auch so, dass man sagt, dass es keine (stetig differenzierbare) Retraktion auf den Rand gibt.

Der folgende Satz heißt Brouwerscher Fixpunktsatz.


Satz  Referenznummer erstellen

Es sei

eine stetig differenzierbare Abbildung der abgeschlossenen Kugel im in sich.

Dann besitzt einen Fixpunkt.

Beweis  

Zur Notationsvereinfachung sei .  Nehmen wir an, dass es eine fixpunktfreie stetig differenzierbare Abbildung geben würde. Dann ist stets

so dass die beiden Punkte eine Gerade definieren. Die Idee ist, mittels dieser Geraden einen (der beiden) Durchstoßungspunkt mit der Sphäre als Bildpunkt einer Retraktion auf den Rand zu nehmen. Mit der Hilfsfunktion

definieren wir eine Abbildung

durch

Dabei ist der Ausdruck unter der Wurzel positiv. Dies ist bei klar und bei liegt ein Punkt auf der Sphäre vor, dessen Verbindungsgerade mit dem Kugelpunkt nicht senkrecht zu ist (der affine Tangentialraum zu einem Punkt der Sphäre trifft eine Kugel nur in einem Punkt), so dass

ist. Da die Quadratwurzel und der Betrag außerhalb des Nullpunktes stetig differenzierbar sind, handelt es sich bei und bei um stetig differenzierbare Abbildungen. Die Abbildung bildet nach Aufgabe ***** {{:Kurs:Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Brouwersche Fixpunktsatz/Explizite Retraktion/Aufgabe/Aufgabereferenznummer/Brouwersche Fixpunktsatz/Explizite Retraktion/Aufgabe/Aufgabereferenznummer}} die Kugel auf die Sphäre ab und ihre Einschränkung auf die Sphäre ist die Identität. Damit liegt eine stetig differenzierbare Retraktion der abgeschlossenen Vollkugel auf ihren Rand vor, was nach Satz 90.7 nicht sein kann.



Fußnoten
  1. Diese Voraussetzungen sichern, dass eine Mannigfaltigkeit mit Rand vorliegt, und zwar ist der Rand die disjunkte Vereinigung der offenen Seiten. Im Beweis werden wir aber auch den abgeschlossenen Quader verwenden.
  2. Unter dem Träger einer Differentialform versteht man den topologischen Abschluss der Punkte, auf denen die Form ist.
  3. Die umgebende reelle Ebene spielt nur insofern eine Rolle, dass durch sie Koordinaten und Differentialformen auf festgelegt werden.


<< | Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Teil III | >>

PDF-Version dieser Vorlesung

Arbeitsblatt zur Vorlesung (PDF)