Kurs:Riemannsche Flächen (Osnabrück 2022)/Vorlesung 15

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Das Kotangentialbündel

Zu einer holomorphen Funktion auf einer komplexen Mannigfaltigkeit und einem Punkt die Tangentialabbildung

eine nach Lemma 5.3  (3) komplex-lineare Abbildung, wobei die hintere Identifizierung unmittelbar gegeben ist (siehe etwa Lemma 4.11 für die identische Karte). Somit kann man als ein Element des Dualraumes zum Tangentialraum in auffassen. Wenn eine offene Teilmenge ist, so ist nach Lemma 5.3  (1) die Tangentialabbildung im Punkt einfach das totale Differential. Daher werden wir im Folgenden auch statt schreiben.


Definition  

Es sei eine komplexe Mannigfaltigkeit und ein Punkt. Man nennt den komplexen Dualraum des Tangentialraumes an den (holomorphen) Kotangentialraum an . Er wird mit

bezeichnet.


Definition  

Es seien und komplexe Mannigfaltigkeiten und

eine holomorphe Abbildung. Es sei und . Dann nennt man die zur Tangentialabbildung

duale Abbildung

die Kotangentialabbildung im Punkt . Sie wird mit bezeichnet.

Ausgeschrieben handelt es sich dabei um die Abbildung

Wie die Tangentialräume zum Tangentialbündel zusammengefasst werden, so werden auch die Kotangentialräume zum Kotangentialbündel zusammengefasst.


Definition  

Es sei eine komplexe Mannigfaltigkeit. Dann nennt man die Menge

versehen mit der Projektionsabbildung

und derjenigen Topologie, bei der eine Teilmenge genau dann offen ist, wenn für jede Karte

die Menge offen in ist, das Kotangentialbündel von .

Das Kotangentialbündel ist selbst eine komplexe Mannigfaltigkeit der doppelten Dimension. Bei

ist das Kotangentialbündel biholomorph zu und damit in diesem Fall auch biholomorph zum Tangetialbündel. Als globales Objekt über einer komplexen Mannigfaltigkeit muss man aber stets zwischen Tangentialbündel und Kotangentialbündel unterscheiden.



Holomorphe Differentialformen

Definition  

Eine holomorphe Differentialform auf einer riemannschen Fläche ist ein holomorpher Schnitt im Kotangentialbündel .

Eine holomorphe Differentialform ordnet also jedem Punkt einen Vektor im Kotangentialraum zu, also eine komplexwertige Linearform auf dem Tangentialraum . Wenn ein Tangentialvektor ist, so versteht man unter diejenige komplexe Zahl, die sich ergibt, wenn man die Linearform auf den Vektor anwendet. Wir beschreiben zuerst die holomorphen Differentialformen auf einer offenen Menge von , was dann auch die lokale Beschreibung für die holomorphen Differentialformen auf einer beliebigen riemannschen Fläche ergibt.



Lemma  

  1. Auf einer offenen Teilmenge besitzt jede holomorphe Differentialform eine eindeutige Darstellung mit einer holomorphen Funktion .
  2. Zu einer holomorphen Funktion ist

    eine holomorphe Differentialform.

Beweis  

  1. Den Tangentialbündel zu können wir mit und das Kotangentialbündel können wir entsprechend mit

    identifizieren. Die Differentialform ist diejenige Differentialform, die jedem Punkt die Identität zuordnet, was der konstanten bei der natürlichen Identifizierung entspricht. Jeder Schnitt im Kotangentialbündel kann man daher eindeutig als schreiben. Dabei liegt genau dann ein holomorpher Schnitt und damit eine holomorphe Differentialform vor, wenn eine holomorphe Funktion ist.

  2. Die Gleichung folgt mit Lemma 5.3  (1) aus

    Die Holomorphie von folgt aus (1) und Satz 1.2.



Lemma  

Auf einer riemannschen Fläche

gelten die folgenden Aussagen.

  1. Die Summe von holomorphen Differentialformen und ist wieder eine holomorphe Differentialform.
  2. Zu einer holomorphen Funktion ist ist eine holomorphe Differentialform.
  3. Zu einer holomorphen Funktion und einer holomorphen Funktion ist auch eine holomorphe Differentialform.

Beweis  

Sowohl die Eigenschaft, ein Schnitt im Kotangentialbündel zu sein als auch die Eigenschaft, holomorph zu sein, sind lokal. Ebenso sind die in den Aussagen vorkommenden Operationen lokal. Daher folgen die Aussagen aus Lemma 15.5.


Eine holomorphe Differentialform auf einer riemannschen Fläche wird häufig in der Form gegeben, wobei eine offene Überdeckung mit Kartengebieten, ein lokaler Parameter und eine holomorphe Funktion auf ist, wobei die auf den Kartenüberlappungen zusammenpassen müssen.



Lemma

Beweis

Siehe Aufgabe 15.4.


Die Garbe der holomorphen Differentialformen auf einer riemannschen Fläche wird mit bezeichnet. Es ist also der Vektorraum aller holomorphen Differentialformen auf und speziell der Vektorraum der globalen holomorphen Differentialformen. Insbesondere für kompakte riemannschen Flächen ist es eine wichtige Frage, wie viele globale holomorphe Differentialformen es gibt. Es handelt sich im kompakten Fall um einen endlichdimensionalen Vektorraum, dessen Dimension auch das differentielle Geschlecht der riemannschen Fläche heißt, siehe hierzu Lemma 15.9, Korollar 15.14, Bemerkung 20.13 und vor allem Korollar 30.7, Korollar 30.9 und Korollar 32.8.

Man nennt die holomorphe Differentialform auch die Ableitung zu und ebenso nennt man die Abbildung

Ableitung oder den Ableitungsoperator. Man beachte, dass es keine Ableitung in dem Sinne gibt, dass einer holomorphen Funktion wieder eine holomorphe Funktion zugeordnet wird. Dies lässt sich zwar lokal definieren, passt aber global nicht zusammen. Um einen sinnvollen Ableitungsprozess zu bekommen, muss man die Ableitung als eine Differentialform verstehen.



Lemma  

Auf einer riemannschen Fläche

liegt die kurze exakte Garbensequenz

vor, wobei hier die Garbe der lokal konstanten Funktionen mit Werten in bezeichnet.

Beweis  

Dies ist eine lokale Aussage, die auf einer Kreisscheibe aus den entsprechenden Aussagen der Funktionentheorie folgt: Eine holomorphe Funktion ist genau dann konstant, wenn ihre Ableitung gleich ist, und eine holomorphe Differentialform besitzt auf einer Kreisscheibe eine Stammfunktion, da man zu einer Potenzreihe direkt eine Stammreihe angeben kann, die den gleichen Konvergenzradius besitzt.


Im Allgemeinen ist die globale Auswertung

nicht surjektiv. Wenn eine holomorphe Differentialform von der Form ist, so heißt eine Stammfunktion der Form. Die Surjektivität der globalen Auswertung ist also äquivalent dazu, dass jede holomorphe Differentialform eine Stammfunktion besitzt. Siehe u. A. Aufgabe 15.3 und Aufgabe 15.6.



Lemma  

Auf der riemannschen Sphäre

ist die Nullform die einzige globale holomorphe Differentialform.

Beweis  

Die Projektive Gerade ist nach Beispiel 2.6 bzw. Satz 5.6 die Verklebung von den beiden komplexen Zahlebenen und entlang der Identifizierung auf . Nach Lemma 15.5 ist eine holomorphe Differentialform auf dem ersten gleich mit einer holomorphen Funktion auf . Diese kann man in wegen Aufgabe 15.5 auf als

schreiben. Dabei ist außer bei die beschreibende Funktion in sicher nicht holomorph auf .



Lemma  

Es sei ein Polynom vom Grad ohne mehrfache Nullstelle und sei die zugehörige riemannsche Wurzelfläche.

Dann sind für holomorphe Differentialformen auf .

Beweis  

Aus ergibt sich die algebraische Relation . Daher ist

und da und keine gemeinsame Nullstelle haben, ist eine solche Differentialform überall definiert.


Dieses Argument würde auch bei allgemeiner angesetzten Differentialformen durchgehen, allerdings bilden die angegebenen Formen auf dem projektiven Abschluss schon eine Basis.



Der Rückzug von holomorphen Differentialformen

Der Rückzug einer Differentialform auf einer komplexen Mannigfaltigkeit unter einer holomorphen Abbildung ist eine Differentialform auf , die durch

definiert ist, siehe auch Kurs:Analysis_(Osnabrück_2014-2016)/Teil_III/Vorlesung_82 für die reelle Situation.



Lemma  

Es sei eine holomorphe Abbildung zwischen riemannschen Flächen und und sei eine holomorphe Differentialform auf .

Dann ist der Rückzug eine holomorphe Differentialform auf

Beweis  

Die Aussage ist lokal, wir können also davon ausgehen, dass eine holomorphe Funktion zwischen offenen Kreisscheiben und ist und dass

mit einem lokalen Parameter auf und einer holomorphen Funktion auf ist. In dieser Situation ist



Lemma  

Es sei eine normale Überlagerung zwischen den riemannschen Flächen und .

Dann entsprechen die holomorphen Differentialformen den holomorphen Differentialformen auf , die unter den Decktransformationen invariant sind.

Beweis  

Dass der Rückzug einer holomorphen Differentialform auf invariant ist, folgt mit Lemma 15.11 unmittelbar aus

für alle Decktransformationen . Wenn umgekehrt eine -invariante holomorphe Differentialform auf vorliegt, so gelangt man in folgender Weise zu einer holomorphen Differentialform auf : Man wählt zu jedem Punkt eine offene Umgebung mit einer disjunkten Zerlegung

und induzierten biholomorphen Abbildungen . Man definiert auf durch zu einem beliebigen . Da es wegen der Normalität der Überlagerung stets eine eindeutige Decktransformation

gibt, ist es egal, welches man wählt. Daraus folgt auch die Unabhängigkeit von der Wahl von und ebenso die Verträglichkeit bei Überschneidungen.


Die vorstehende Aussage gilt allgemeiner auch für endliche holomorphe Abbildungen, die normal sind, siehe Satz Anhang.. Den wichtigen Fall einer Potenzabbildung kann man direkt erledigen.


Beispiel  

Wir betrachten die komplexe Potenzierung , zwischen Kreisscheiben (oder auf ganz ). Die holomorphe Differentialform wird auf abgebildet, die invariant unter den Multiplikationen zu einer -ten Einheitswurzel ist. Generell entsprechen die holomorphen Differentialformen auf den Differentialformen auf , und das sind genau die Differentialformen, die invariant unter den Multiplikationen mit -ten Einheitswurzeln sind.




Korollar  

Auf einem komplexen Torus zu einem Gitter

sind die holomorphen Differentialformen gleich mit , wobei die durch die -invariante Differentialform auf induzierte Form auf bezeichnet.

Insbesondere ist der Raum der holomorphen Differentialformen auf eindimensional.

Beweis  

Wir verwenden Lemma 15.12. Die holomorphen Differentialformen auf haben die Form mit einer holomorphen Funktion auf . Da invariant unter der Operation von ist, bedeutet die Invarianz der Differentialform, dass invariant unter ist. D.h. ist eine - doppeltperiodische Funktion. Nach Lemma 11.3 (Elliptische Kurven (Osnabrück 2021-2022)) sind diese konstant.


Die Schreibweise für die holomorphe Differentialform auf einem Torus ist insofern problematisch, dass sie dahingehend missverstanden werden kann, dass es sich um das Differential zu einer Funktion auf dem Torus handeln könnte, was nicht der Fall ist.


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